Tacitus erwähnt in der Germania im römisch okkupierten Gebiet östlich des Rheins und nördlich der Donau neben den dort ansässigen Mattiakern noch Gallier, welche sich hier niedergelassen und die decumates agros in Besitz genommen haben und bewirtschaften. Die Stelle (29, 3) lautet wie folgt :
Bekanntlich wurden die decumates agri oder auch wohl das „Dekumat(en)land“ nach dieser singulären Stelle zu einem allseits akzeptierten Fachbegriff in der Tacitusphilologie wie in der historischen und archäologischen Landesforschung Südwestdeutschlands. Bis heute ist jedoch strittig, was eigentlich decumates bedeutet. A.A.LUND, der - soweit ich sehe - sich als letzter mit diesem Problem ausführlich und gründlich auseinandergesetzt hat,[2] trifft eingangs seiner Untersuchung die knappe Feststellung, „daß es der Forschung nicht gelungen ist, Decumates agros zu erklären....“. Diese Feststellung darf immer noch gelten, da auch sein Lösungsvorschlag Fragen und Zweifel hinterläßt.[3]
Im methodischen Vorgehen ist LUND darin beizupflichten, daß die Wortfolge decumates agros nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern nur mit Einbezug des Kontextes. So wird denn auch zweifellos die Wortverbindung decumates agros im folgenden Satz als dubiae possessionis solum wieder aufgegriffen und näher erläutert. Doch die Deutung dieser Worte ist gleichfalls umstritten, was ebenso für folgendes occupavere gilt. Und schließlich wären da noch die Gallier, über deren Herkunft in der Forschung so wenig eine einheitliche Auffassung vertreten wird, wie man sich andererseits wieder einig ist über die Nichtsnutzigkeit derselben.
Demnach ist diese Untersuchung in drei Teilaufgaben zu gliedern :
I. Was bedeutet decumates agros?
II. Wie ist dubiae possessionis solum occupavere zu verstehen?
III. Was sagt Tacitus von den dort ansässigen Galliern?
Die Anworten auf diese Einzelfragen sollten sich im Fortschreiten der Untersuchung sinnvoll gegenseitig ergänzen, wobei mit „sinnvoll“ gemeint ist, daß zum einen die hier vorgelegten philologischen Ergebnisse unseren historischen und bodenrechtlichen Kenntnissen nicht widersprechen, sondern sich mit ihnen zu einer einheitlichen und klaren Aussage zusammenfügen, und zum anderen, daß die Einzelantworten sich als Teile eines Ganzen erweisen, um so eine in sich geschlossene Erklärung der problematischen Stelle zu bieten.
I.
Wir beginnen mit decumates, denn mit der Erklärung dieses rätselhaften Wortes steht oder fällt das Gesamtergebnis. Was den Forschungsstand betrifft, dürfen wir uns hierbei kurz fassen, da von G.NEUMANN, D.TIMPE, H.U.NUBER ein informativer Lexikonartikel,[4] von A.A.LUND ein umfangreicher Forschungsbericht vorliegen,[5] in denen ausführlich und mit umfangreicher Stellungnahme die bisherigen Beiträge und Hypothesen dargelegt sind und die dankbar herangezogen wurden. So beschränken wir uns auf eine knappe Zusammenstellung der wesentlichen Lösungsvorschläge und Einwände, um festzustellen, welche Vorgaben bei dieser Erörterung zu beachten sind.
Eine Musterung der Lösungsvorschläge ergibt, daß überwiegend zwei Deutungen vertreten werden. Die ältere Forschung erklärt decumates agros als „Zehntland“, auf dem von den Erträgen eine zehnprozentige Abgabe zu entrichten gewesen sei. Dagegen hatte bereits MOMMSEN seine warnende Stimme erhoben : „ ....weder ist es sprachlich erwiesen, daß decumas “zehntpflichtig“ heißen kann, noch kennen wir derartige Einrichtungen der Kaiserzeit“.[6] Gleiches gilt für eine Sonderform der Zehntenhypothese, die decumas, Plural decumates, als „zehntpflichtigen Pächter“ erklärt.[7]
Größere Wahrscheinlichkeit wird heute in den einschlägigen Handbüchern und Lexika der Deutung „Zehntland“ oder „Zehenschaftsland“ zugestanden, eine Theorie, die eine keltische Flureinteilung nach kantonalem Muster aus vorrömischer Zeit zugrundelegt. Danach wäre decumates agros nicht eine reinlateinische, sondern eine gallorömische Mischbildung. Aber eine keltische Wurzel kann nicht etymologisch überzeugend nachgewiesen werden, und überhaupt bleibt es fraglich, ob eine solche singuläre lokale Mischbildung dem römischen Publikum verständlich gewesen wäre, oder ob der in stilistischer Hinsicht empfindliche Tacitus eine gallorömische Mischbildung verwandt hätte. Man darf hinzufügen, daß sowohl die steuertechnische Erklärung „Zehntland“ als auch die verwaltungstechnische Deutung „Zehnland“ oder „Zehenschaftsland“ einen terminus technicus aus der Verwaltungs- oder Kanzleisprache darstellen, was für Tacitus, der bekanntlich sogar geläufige Bezeichnungen, z.B. aus dem cursus honorum oder den Priesterkollegien meidet und zu umschreiben pflegt,[8] eine ungewöhnliche Verwendung darstellte. Gleichfalls wegen stilistischer Bedenken und mangelnden Belegs sind solche Deutungen zurückzuweisen, die in Decumates einen Personen- oder Flurnamen vermuten und dementsprechend groß schreiben.
Da nun überliefertes decumates mit überzeugenden Gründen nicht gehalten werden kann, bleibt nur der Ausweg, eine crux in den Text zu setzen und das Heil in einer Konjektur zu suchen. Nach erfolglosem Vorgehen anderer schlug A.A. LUND einen neuen Weg ein,[9] der sich vom überlieferten Bestand decumates und der damit verbundenen magischen Zehnzahl abwandte; stattdessen wird desertos vorgeschlagen. So übersetzt und erklärt LUND mit seiner Konjektur eos qui desertos agros exercent mit „jene..., die Ödland, das von den Bebauern verlassen worden war, anbauen“.[10] Doch bei aller Subtilität in der Erörterung des Problems kann der um die Erklärung der Germania verdiente Forscher nicht verdeutlichen, wer diese vormaligen Bebauer gewesen sind („am wahrscheinlichsten...Germanen“)[11], noch wann oder unter welchen Umständen die agri von ihnen aufgegeben und von den Galliern übernommen wurden. Wenn Tacitus dazu keine Angaben machen konnte, weshalb sollte er dann ausdrücklich von desertos agros reden? Kannte er aber die alten Bewohner und ihre Gründe zur Aufgabe ihrer Heimat, ist nicht einzusehen, warum er dies unterschlägt und nur das Ergebnis festhält, das Fragen offenläßt.[12]So ist die Konjektur inhaltlich wenig überzeugend, ganz abgesehen von der paläographischen Schwierigkeit, sich de-cuma-tes aus de-ser-tos verschrieben zu denken.
Welche Vorgaben für einen erneuten Versuch, eine Heilung für unhaltbares decumates zu finden, sind aus den vorgetragenen Einwänden gegen die bisherigen Hypothesen zu entnehmen?
1. Korruptel und Konjektur müssen paläographisch nachvollziebar sein.
2. Das Wort muß belegbar, seine Bedeutung verifizierbar sein.
3. Die Emendation muß dem Sprachgebrauch und dem Stil des Tacitus angemessen sein.
4. Das Wort sollte sich so in den Kontext einfügen, daß der Zusammenhang erhellt und
verständlich wird (= II. und III.).
Soviel zu den Vorgaben, die zu beachten wären.
(1) Obwohl LUNDs Konjektur nach meiner Auffassung nicht überzeugt, stimme ich ihm soweit zu, daß er die Überlieferung für gestört ansieht und sich mit seinem Emendationsvorschlag von den bisherigen Wegen entfernt. Und in der Tat, was zwingt uns eigentlich, von einem Wortbeginn „dec....“ auszugehen, um von daher (und ganz im Ungewissen) mit der Bedeutung „Zehn(t)....“ zu operieren? Kann sich hier nicht schon ein Schreibfehler eingeschlichen haben, der uns auf eine falsche Fährte lockte? Zwar die Buchstabenfolge de kann, da häufiges Präfix, als fixiert im Bewußtsein des Schreibers und damit als nicht fehleranfällig betrachtet werden. Was aber ist mit dem c ? Kann hier nicht ein Fehler vorliegen, etwa derart, daß vorher ein g zu lesen war? Diese Möglichkeit ist um so eher denkbar, wenn man sich die Korruptel in einer Majuskelschrift, und zwar in dem rundlichen Duktus der Unziale, entstanden vorstellt, in der das G vom C nur durch einen winzigen Strich bzw. Punkt unten unterschieden ist.[13] Die Verschreibung C statt G ist in der Überlieferung nicht ungewöhnlich, zumal bei seltenen Wörtern, bei denen man annehmen darf, daß sie dem Schreiber wohl nicht mehr verständlich waren. In der Tacitusüberlieferung bietet ann. 4, 24, 3 ein gutes Beispiel für eine solche Verschreibung aus Unverständnis : der Mediceus bietet recepto leameo für richtiges rege Ptolemaeo. Dazu bemerkt KOESTERMANN im app. crit. (B.T., 1960): sed c effectum ex g. Ähnliches unterlief dem Schreiber ann. 4, 43, 2: recident heliatem agrum, was NIPPERDEY emendierte regi Denthaliatem agrum.
Läßt man nun einmal problematisches DECUMATES mit DEG... beginnen, liegt es methodisch auf der Hand, mit Hilfe des Thesaurus linguae Latinae zu überprüfen, ob sich unter „deg....“ ein Wort findet, das entsprechend den dargelegten Vorgaben eine Untersuchung wert ist. Bei diesem Vorgehen stößt man unter dem Lemma „degrumo“ auf das Verb degrumare.[14] Dieses ist der Literatur kaum bekannt, weist es doch nur drei Belege auf, und zwar neben dem späten Lexikographen Nonius noch Ennius und Lucilius, die Nonius ausgeschrieben hat. Was aber an degrumare stutzig macht, ist zunächst einmal seine Etymologie, welche laut Thesaurusartikel R. THURNEYSEN von „de“ und „gruma seu groma“ herleitet, und damit ist ein interessanter Hinweis gegeben.
Die groma war bekanntlich das Visiergerät der römischen Feldmesser oder Agrimensoren.[15]Am bekanntesten ist sie heute wohl duch ihre einstige Verwendung bei der Castrametation der römischen Marschlager. Im besonderen Maße aber wurde die groma bei der Limitation und Centuriation gebraucht, also bei der Landvermessung und -parzellierung, bei der das zur Verteilung stehende Land durch ein System sich rechtwinklig schneidender limites, die gleichzeitig als Wegenetz dienten, vermessen und verteilt wurde. Die üblichen Flureinheiten bei dieser Parzellierung waren die Centurien, die auch diesem System den Namen (centuriatio) gaben.[16] Derartige Bodenvermessungen wurden bei der Deduzierung von Kolonien, „bei der Konstituierung von Munizipien, Praefekturen und Fora, beim ager publicus, bei neuerworbenem oder zum Verkauf stehendem Provinzialboden, kaiserlichen Domänen“[17]von den römischen Feldmessern mit der groma durchgeführt.
Die gromatische Technik, die von den Griechen entwickelt wurde, haben die Römer über die Etrusker kennengelernt. Von daher erklärt „sich auch das Schwanken zwischen groma und gruma..., denn das Etruskische hat nur ein Zeichen für ô und û (V), sodaß etruskisches gruma (von gnwma) im Lateinischen sowohl groma wie gruma geschrieben werden konnte“.[18]
Das von gruma abgeleitete degrumare erklärt der Lexikograph Nonius mit gruma derigere, also „mit der gruma vermessen“. dirigere (derigere bei Nonius ist Nebenform) ist in den Schriften der römischen Feldmesser[19] terminus technicus für Vermessen mit der gruma oder groma und hat zusammen mit anderen Synonyma wie limitare, metare etc. offensichtlich älteres degrumare - wie noch zu zeigen sein wird - verdrängt.[20] Will man an dem Verdacht, daß decumates agros eine Korruptel ist, festhalten, bietet sich möglicherweise hier mit degrumare eine Lösung an, indem man die Möglichkeit unterstellt, daß in einer Majuskelhandschrift DECUMATES AGROS verschrieben und hervorgegangen ist aus ursprünglichem DEGRUMATOS AGROS. degrumatos wird verstanden als Partizip Perfekt Passiv in attributivischer Verwendung, und die dazugehörige Wortverbindung eos qui degrumatos agros exercent bedeutet wörtlich übersetzt „diejenigen, die mit der Groma vermessene Äcker bestellen“.
Paläographische Bedenken sind kaum dagegen anzuführen. Der wesentliche Aspekt bei einer Konjektur ist, möglichst viel vom Stamm der Korruptel zu bewahren. Stellt man konjiziertes de - GRUMA - tos neben tradiertes de - CUMA - tes, so ist auf die Anfälligkeit des G bereits hingewiesen. Wesentlich ist aber, daß sich bei beiden Stämmen die Buchstabenfolge -UMA- findet, und das gibt der Konjektur degrumatos einen guten paläographischen Rückhalt. Die einzig wirkliche Härte bleibt der Ausfall des R in DEG R UMATOS, aber das ist hinnehmbar: Irgendwo muß ja der Riegel sitzen, der das Verständnis versperrt. Nunmehr muß sich erweisen, ob die Konjektur auch sprachliche und inhaltliche Tragfähigkeit besitzt.
(2) Wegen der singulären Überlieferung müssen wir zunächst degrumare näher betrachten, das uns laut Thesaurusartikel Nonius bewahrt hat. Dieser Lexikograph, der, wohl zu Beginn des 4. Jahrh.s in Nordafrika, ein Kompendium zur sprachlichen Erläuterung der alten republikanischen Literatur verfaßte, bringt unter dem Lemma GRVMAE diese Erklärung :
GRVMAE sunt loca media, in quae directae quattuor congregantur
et conveniunt viae. est autem g r u m a mensura quaedam, qua
fixa viae ad lineam deriguntur, ut est agrimensorum et talium. -
Ennius lib. XVIII gruma derigere dixit :
degrumare forum.
Lucilius lib. III:
viamque
degrumabis, uti castris mensor facit olim.[21]
Nonius kennt also zwei Bedeutungen von gruma. In der ersten Erklärung bezeichnet er mit gruma den Schnittpunkt von vermessenen (und rechtwinklig aufeinanderstoßenden) Wegen oder Straßen (directae ... viae).[22] Wenn er, was man vermuten darf, gruma von congregare ableiten möchte, ist das natürlich etymologischer Unsinn.
Im zweiten Teil verweist er auf das Visiergerät der Agrimensoren, dessen Verwendungsbereich er wohl als bekannt voraussetzt (ut est agrimensorum et talium).
Für das Vermessen mit der gruma bringt er das erlesene degrumare mit je einem Beleg aus dem 18. Buch der Annalen des Ennius und einem aus dem dritten Satirenbuch des Lucilius. Der Enniusvers in der LINDSAYschen Noniusausgabe ist eine Emendation von VAHLEN, die Nonius-codd. haben degrumari ferrum. WARMINGTON übernimmt VAHLENs Verbesserungsvorschlag,[23] er übersetzt „to level off the meeting place“. Da wir aus B. XVIII der Annalen nur zwei Fragmente mit Buchangabe haben, sind die behandelten Ereignisse unbekannt und eine Einbindung des Zitates in einen Zusammenhang bleibt, auch vermutungsweise, undenkbar. Für diese Untersuchung ist das ohne Belang. Wesentlich bleibt hier die unangefochtene Verwendung von degrumare durch Ennius und seine Bedeutung.
Etwas besser steht es um das Luciliuszitat. Nach Nonius stammt es aus dem dritten Satirenbuch, aus dem so viele Fragmente erhalten sind, daß eine Rekonstruktion des Inhalts einigermaßen gesichert ist. Zur Hilfe kommt hierbei, daß Horaz mit Blick auf diese Satire, die eine Reisebeschreibung nach Sizilien umfaßt, in seinem Iter Brundisinum (sat. 1, 5) mit seinem großen Vorgänger wetteifert. Lucilius beschreibt die Reiseroute und seine Abenteuer für einen unbekannten Freund, der offensichtlich die Reise zunächst mitmachen wollte, dann aber verhindert wurde und sie zu einem späteren Zeitpunkt antreten will. So rekonstruiert O. WEINREICH den Zusammenhang, und er erklärt den Tempus- und Personenwechsel : „Er kann bald in der Form der Vergangenheit schildern was er erlebte, bald im Futurum Angaben machen über das, was den Freund erwartet, wenn er da und dort hinkommt “.[24] Von daher rekonstruiert er den Übergang zum überlieferten Zitat :
„Ehe du dann reisen wirst, schreibt er dem Freund, ist eins nötig“,
und er übersetzt :
„(zuvor die Orte) und Wege wirst du genau festlegen, wie es
sonst der Feldmesser tut beim Lager.“
WEINREICH folgt in seiner Übersetzung (wie LINDSAY in seiner Noniusausgabe) dem Verbesserungsvorschlag degrumabis ut <i> von MERCIER und MARX; die Nonius-codd. lesen degrumavis ut. WARMINGTON verbessert degrumavisti ut und übersetzt : „and have you levelled off the road as sometimes a campsurveyor does for a camp?“ und als Erklärung schlägt er fragend vor : „Marking rest-places on a map before leaving Rome?“.[25] Den Gebrauch einer Karte scheint auch WEINREICH angenommen zu haben.
Straßenkarten kamen im 2. Jahrh. v. Chr. in Gebrauch.[26] Sie entwickelten sich aus der forma der Agrimensoren, einem Katasterblatt, in das die Feldmesser die mit der Groma vermessenen Centurien und die Namen der Landempfänger eintrugen. Aus der forma, die als wichtiges Dokument doppelt hinterlegt sowohl in der zuständigen Kolonie als auch in Rom aufbewahrt wurde, „wird durch Aufweitung auch auf nicht verteiltes Gebiet eine wirkliche Flurkarte“.[27] Eine aus solchen Flurkarten entwickelte Straßenkarte kann Lucilius benutzt haben, wie man aus größeren Entfernungsangaben entnehmen darf.[28]
Neben degrumare findet sich das Simplex grumare, das literarisch nicht vertreten ist, aber an drei Stellen im Corpus der Glossen mit „vermessen“ erklärt wird, z.B. grumare : dirigere, aequare.[29]
(3) Obwohl die groma oder gruma in der römischen Zivilisation vielfache Anwendung fand, bleibt auffällig, daß das von ihr abgeleitete Verb in dem umfangreichen Corpus der Schriften der römischen Feldmesser, in denen die unterschiedlichen Meßverfahren erläutert werden, nicht benutzt wird; stattdessen finden sich dirigere, metare, metiri, limitare neben delimitare oder Wortverbindungen wie mensuram agere oder mensuram comprehendere u.a. so häufig, daß sich Stellenangaben erübrigen. Das Fehlen von degrumare wird allerdings weniger auffällig, wenn man das Corpus auf die Verwendung des Substantivs groma oder gruma überprüft. Nach dem Index bei RUDORFF[30] wird groma fünfmal in den Schriften der römischen Feldmesser gebraucht. Daneben erscheint es noch zweimal bei Hygin, de munitionibus castrorum, also insgesamt siebenmal in der Literatur, und zwar in beiden von Nonius aufgeführten Bedeutungen, viermal - nach dem Thesaurusartikel[31]- als „Vermessungsschnittpunkt“, dreimal als „Visiergerät“[32], wobei die Bedeutungszuweisung nicht immer zweifelsfrei möglich zu sein scheint.[33] Diese seltene Verwendung von groma im Sinne von „Visierinstrument“ in den agrimensorischen Schriften steht im Widerspruch zum selbstverständlichen Gebrauch von „Groma“ und „gromatisch“ in der modernen Fachliteratur und den Handbüchern.[34] Offensichtlich fanden die Autoren - die älteste Abhandlung ist in der Zeit des Tacitus von Frontin verfaßt - es nicht mehr in Gebrauch. Sie verwenden stattdessen neben machina am häufigsten ferramentum, das nach dem Index bei RUDORFF ingesamt 28 Mal benutzt ist, in der eindeutigen Verwendung „Visiergerät“.[35] Außerhalb der gromatischen Literatur erscheint groma bzw. gruma nur bei den Lexikographen Nonius (in der Form gruma) und Paulus-Festus (groma, p. 96 M.), die hier also Erklärungsbedarf sahen. Aus diesem Befund darf man folgern, daß groma oder gruma und mit ihnen degrumare durch andere Wörter aus der Umgangssprache, aber auch aus der Fachsprache der Agrimensoren verdrängt worden sind.
Die hier vertretene Emendation degrumatos (agros) wäre demnach ein verbum priscum, ein Archaismus. Das ist eine wesentliche Feststellung hinsichtlich des taciteischen Sprachgebrauchs. „Es ist eine wohlbekannte Tatsache“, bemerkt ST. BORSZAK zu Sprache und Stil unseres Autors, „daß Tacitus die gewohnten Fachausdrücke womöglich meidet..., die zu ´wochentäglichen` Bezeichnungen durch feierlichere (durch archaisierende Formen, individuelle Prägungen, Umschreibungen usw.) ersetzt“,[36] und E. NORDEN bemerkt hierzu : „Archaismen, die sehr selten sind, erklären sich teils aus dem sermo poeticus, teils aus der Nachahmung des Sallust....“.[37] Vermeidung eines Fachausdruckes, Archaismus, poetisches Wort und zugleich Reminiszenz an die alte republikanische Literatur,[38] das sind Voraussetzungen, die degrumare für taciteischen Sprachgebrauch empfehlen.
Auch die von BORSZAK genannte „feierlichere Form“ läßt sich möglicherweise für degrumare festmachen. Da die Limitation nach römischer Auffassung sich aus dem Auguralwesen herleitet, darf man vermuten, daß degrumare aus diesem Bereich stammt,[39] es also der Auguralsprache zuzuweisen ist. Diese Vermutung stützt das durch die Auguraldiziplin geregelte Vorgehen bei der Einholung eines augurium. Für seine sakrale Handlung bestimmte der Augur zunächst das Gebiet bzw. den Betrachtungsausschnitt, in dem das Augurium rechtmäßig stattfinden konnte. Dieser Raum war das sog. templum, das dann später dem heiligen Bezirk und dem Haus der Gottheit selbst den Namen gab. Die Grenzen des templum bestimmte der Augur mit Hilfe seines Amtsstabs, des lituus, den er als Visiergerät vor sich hielt, wobei er markante Geländepunkte zu Grenzpunkten erklärte. Diese Grenzfestlegung wurde in festen Formeln unter Verwendung von „feierlichen Worten“ (conceptis verbis) ausgesprochen.[40] In einer späteren Zeit, als die Einmessung von heiligen Bezirken bis hin zur Gründung von Kolonien höhere Anforderungen an die Meßtechnik stellte, trat an die Stelle des lituus die gruma oder groma der Etrusker,[41] von denen ja auch nach römischer Vorstellung Auguraldisziplin und Limitation ihre Herkunft haben sollen. Bei dem Einsatz der groma wurde gleichfalls eine Augurationsformel gesprochen, wie eine aufschlußreiche Stelle in den agrimensorischen Schriften belegt: Hygin gebraucht die Wortverbindung posita auspicaliter groma, ipse forte conditore praesente (Th. 135, 3-4). Aufschlußreich ist die Stelle deswegen, weil der Autor zu auspicaliter längst verdrängtes groma setzt, während er einen Satz vorher noch gebräuchliches ferramentum verwendet. Es ist sicherlich nicht ein Streben nach Variatio, das den Autor veranlaßt, in Verbindung mit auspicaliter altertümliches groma üblichem ferramentum vorzuziehen, sondern in seiner Formulierung findet das Aufstellen der Groma unter auguralen Formeln einen Niederschlag. So kann die bei dieser Gelegenheit gesprochene Formel degrumare in ihren concepta verba enthalten haben.[42]
Die Zugehörigkeit zur Auguralsprache kann eine Erklärung dafür sein, daß degrumare als zu feierlich oder zu altertümlich oder, da nicht lateinisch, als unverständlich von anderen Wörtern verdrängt wurde, aber als der Sakralsprache zugehörig und von daher der epischen Sprache für angemessen empfunden Aufnahme in Ennius’ Annalen fand.[43]
Dieser Zuweisung scheint nun die Verwendung von degrumare in Lucilius’ Satiren entgegenzustehen, ein literarisches genus, das dem niederen Stil zugerechnet wird und sich mit dem sermo cottidianus begnügt. Aber auch die Satire greift gelegentlich nach dem gehobenen Wortschatz und schmückt sich mit erhabenem Stil, indem sie aus Epos und Tragödie Entlehnungen vornimmt, wenn auch zumeist in parodierender Absicht. Für Luculius bezeugt dies Horaz (sat. 1, 10, 53 f.), und zu dortigem „Nil comis tragici mutat Lucilis Acci“ notiert Porphyrio „Facit autem haec Lucilius cum alias, tum vel maxime in tertio libro“. Demnach hat Lucilius so manches Wort aus der feierlichen Sprache in Accius’ Tragödien ausgehoben und parodierend in die derbe Umgebung seiner Satiren gesetzt, so besonders im dritten Buch, dem Iter Siculum, aus dem der erörterte Vers stammt. Im neuen Umfeld mag für die Zeitgenossen altertümlich sakrales degrumabis pompös geklungen haben, oder auch durch uneigentliche Verwendung parodisch, denn selbstverständlich soll der Adressat nicht die via Appia mit der Groma nachmessen.
Man darf zu diesem Punkt festhalten : Es besteht ein hinreichender Grund zur Vermutung, daß degrumare als verbum augurale anzusehen ist,[44] wobei besonderes Gewicht der in den gromatischen Schriften bezeugten auspizialen Handlung beim Beginn der Limitation (posita auspicaliter groma) beikommt.[45]
Auch in formaler Hinsicht hält die Konjektur einer Überprüfung hinsichtlich taciteischer Sprachkriterien stand. Mit degrumatos agros haben wir ein in der Germania beliebtes klangvolles Homöoptoton mit Alliteration,[46] hier in der Sonderform der Binnenalliteration. Doch diese Wortverbindung hat nicht nur - wie dargelegt -eine poetisch archaisierende Aura, sondern kommt auch der für Tacitus bekannten verkürzten Ausdrucksweise entgegen. Tacitus stellt mit degrumatos agros („mit der Groma vermessene Äcker“) unmißverständlich klar, daß diese Flurvermessung von römischer Seite durchgeführt wurde, denn nur römische Feldmesser arbeiteten mit der Groma.[47] Bei jedem anderen Wort für Vermessen, beispielsweise (auch poetischem) metatos[48], bliebe ohne erläuternde Ergänzung, etwa
agros a m e n s o r i b u s R o m a n i s metatos
unklar, wer hier die Äcker vermessen hat. Eine solche Erläuterung wäre aber ein sprachlich recht schwerfälliger Zusatz für Tacitus, der ja kurz vorher bereits gesagt hatte, daß dieses Gebiet römisch okkupiert ist,[49] aber sachlich wäre er notwendig, denn es hätte sich ja auch um eine ältere Vermessung aus vorrömischer Zeit handeln können. Mit degrumatos agros dagegen stellt Tacitus eindeutig klar, daß es sich hier um eine römischerseits durchgeführte Neu- oder Erstvermessung und Parzellierung handelt.
Nun mag man einwenden, daß bis heute keine zweifelsfreien Spuren einer Limitation, so wie sie sich in Nordafrika, Italien oder Frankreich aufzeigen lassen, in dem hier in Frage stehenden Gebiet gefunden wurden.[50] Dazu ist zu sagen, daß die römische Herrschaft, und damit auch die römische oder gallische, d.h. nach mediterraner Praxis betriebene Agrarwirtschaft in diesem sinus imperii nur von relativer kurzer Dauer war, mithin die römische Flureinteilung sich nicht so nachdrücklich in die Landschaft einprägen konnte wie in den genannten Ländern. Dies dürfte um so eher der Fall gewesen sein, wenn bei der hier durchgeführten Parzellierung das System der Strigation oder Skamnation angewandt wurde.[51] Bei diesem Vorgehen verzichtete man auf die Limitation mit rechtwinklig sich kreuzenden, schnurgerade verlaufenden limites, die gleichzeitig als Wegekreuz dienten und sich somit regelrecht ins Gelände einschnitten; stattdessen parzellierte man den Boden ohne Limitationskreuze nur in rechteckige Parzellen (strigae „Streifen“ oder scamna „Bänke“), und die Vermessung beschränkte sich hierbei auf die Grundstücksgrenzen, sie erfolgte per proximos possessionum rigores, wie für die flavische Zeit Frontin (L. 3) bezeugt, und er fügt hinzu, daß man in dieser Weise den s t a a t l i c h e n B o d e n in den Provinzen vermesse: ager per strigas et per scamna divisus et adsignatus est more antiquo in hanc similitudinem (damit wird ein Hinweis auf eine beigefügte Skizze gegeben), qua in provinciis a r v a p u b l i c a coluntur.
Als nun in der 2. Hälte des 3. Jahrh.s alemannische Scharen in dieses Gebiet einfielen und sich bald auch hier festsetzten, haben sich die neuen Eigentümer schwerlich an die römischen Parzellengrenzen gehalten, die so rascher spurlos verschwanden als die bis zu fünf Meter breiten Grenzwege (limites) beim Limitationssystem, die teilweise auch als öffentliche Wege dienten. Auf archäologischer Seite ist man sich einig, daß eine Vermessung und Parzellierung stattgefunden hat.[52] Mag diese nun in der Form der Limitation oder - wahrscheinlicher - der Skamnation durchgeführt worden sein, auch letztere „setzt immer die Verwendung der mensorischen Geräte (groma und decempeda) voraus“, [53] und die hier vertretene Konjektur käme also auch mit der Scamnation zurecht.
II.
Es bleibt zu prüfen, ob die Konjektur degrumatos (agros) und die damit verbundene Auffassung von einer römischerseits durchgeführten Parzellierung sich im Kontext festigen läßt. Dazu muß die Wortverbindung dubiae possessionis solum occupavere näher untersucht werden, da sie zweifellos voraufgehendes eos qui degrumatos agros exercent wieder aufgreift. Ganz augenscheinlich wird hier die Eigentums- und Besitzfrage berührt, und so ist diese Stelle auch immer wieder verstanden worden, allerdings mit sehr unterschiedlicher Auffassung sowohl bezüglich der dubia possessio am Boden wie auch des folgenden occupavere, das zweifellos denselben Personenkreis umfaßt wie vorhergehendes exercent.
Um mit der Besitzfrage zu beginnen,[54] so wird mal dieses Gebiet deswegen als ein dubiae possessionis solum verstanden, weil es kein ausgewiesener Stammesbesitz ist; oder weil der Besitz zwischen Römern und Germanen strittig ist; oder weil die Gallier in der „Urzeit ...Boden von zweifelhaftem Eigentumsrecht in Besitz genommen haben“[55]. Andere entwickeln mit Rückgriff auf die Helvetier in cap. 28, 1-2 eine Siedlungsgeschichte dieses Raumes in mehreren Perioden von der La-Tène-Zeit bis zur römischen Besetzung. Keine von diesen Auffassungen vermochte sich durchzusetzen; auch würde es schwerfallen, eine davon mit der Konjektur degrumatos (agros) als von Römern parzelliertes Land zu verbinden.
Anders steht es da mit der Erklärung, welche agros bzw. possessionis solum als kaiserliches Domanialland deutet.[56] In der frühen Kaiserzeit hatte sich eine Theorie entwickelt, die das Eigentum am Provinzialboden (dominium in solo provinciali) dem römischen Volk zusprach, in der politischen Realität dem Kaiser.[57] Ihr zufolge besaß der einzelne kein dominium am Boden in der Provinz, sondern nur eine possessio und ein damit verbundenes „eigentumsähnliches Nutzungsrecht“.[58] Die Befürworter dieser Deutung für die bei Tacitus erwähnten agri können zur Stützung ihrer Hypothese auf inschriftliches Material verweisen, das beim heutigen Rottenburg (Sumelocenna) am Neckar eine kaiserliche Domäne (saltus Sumelocennensis) erwähnt.[59] Die Verwaltung eines saltus leiteten kaiserliche Prokuratoren, und ein solcher ist für den Bezirk Sumelocenna durch eine griechische Inschrift ausgewiesen.[60] Von daher sind gewichtige Gründe gegeben, das in Frage stehende Gebiet als kaiserliches Eigentum anzusehen.
Diese Auffassung vom kaiserlichen Domanialland wird auch hier vertreten, denn sie fügt sich zwanglos zu der Konjektur degrumatos, wenn wir diese mit der Wirtschaftsweise, die auf den kaiserlichen Gütern herrschte, in Beziehung setzen. Diese riesigen saltus waren nämlich centuriert, also in Parzellen aufgeteilt, welche zu bestimmten Vertragsbedingungen an freie Pächter (coloni), römische Bürger wie Provinziale, weitergegeben wurden.[61] Nichts spricht dagegen, daß nicht ebenso auf dem saltus Sumelocennensis verfahren wurde, und so fügen sich die Hypothese vom kaiserlichen Domanialland und die Emendation degrumatos sc. agros, „die mit der Groma vermessenen Äcker“, unter denen die Parzellen des saltus zu verstehen sind, zu einem bekannten Bild der frühkaiserzeitlichen Gutswirtschaft sinnvoll zusammen.[62]
Nunmehr fragt sich, ob dieses Ergebnis vom Kontext gestützt wird, insonderheit durch die so kontrovers diskutierten Worte dubiae possessionis solum occupavere. Für sie ist der Nachweis zu erbringen, daß von Kolonen die Rede ist und von keinem anderen Rechtsverhältnis bezüglich des Bodens als dem der Pacht. Und dann bliebe noch zu klären, was es mit dem „gallischen Gesindel“ auf sich hat, das so oder ähnlich sich gar nicht in das Bild „Kolonen auf Staatsgütern“ fügen will.
Wir wenden uns zunächst occupavere zu. In der Literatur wird von denjenigen Forschern, die nicht von Domanialland reden, occupavere mit „in Besitz nehmen“ im Sinne von „als Eigentum übernehmen“ erklärt. Man geht dabei von der Annahme aus, daß dies einst herrenlose Land in vorgeschichtlicher Zeit von den genannten Galliern besetzt und zu eigen genommen wurde.[63] Andererseits gab es aber auch zu Zeiten der Republik den Begriff der occupatio im bodenrechtlichen Sinne im Zusammenhang mit dem ager publicus, und diese Okkupation schuf kein Eigentum, sondern umfaßte nur eine Bewirtschaftung des Bodens, die jederzeit wieder vom Eigentümer, dem populus Romanus, widerrufen werden konnte.[64] Es ist klar, daß von diesen beiden Bedeutungen nur letztere sich mit der hier vertretenen Auffassung verträgt. Es ist also zu belegen, daß der aus republikanischer Zeit geläufige Begriff occupatio bzw. occupare für die Übernahme von Staatsland in der frühen Kaiserzeit noch gebräuchlich war, jetzt allerdings unter gewandelten Bedingungen nicht mehr zu verstehen als freier Zugriff auf den ager publicus seitens römischer Bürger, sondern in Form des Kolonats für Übernahme von Pachtland auf Domanialboden.
Klarheit schafft in diesem Falle ein inschriftlich bewahrtes Dokument aus hadrianischer Zeit, das uns von der Bewirtschaftung und Verwaltung kaiserlicher saltus in der Provinz Africa proconsularis eine Vorstellung gibt.[65] Darin ist ein Bescheid kaiserlicher Prokuratoren (sermo procuratorum) erhalten, der Kolonen auf ihre Bittschrift (petitio) erteilt wurde.[66] In diesem Bescheid verwenden die Prokuratoren, worauf D. FLACH in einem anderen Zusammenhang hinwies, occupare, „wenn Kolonen Pachtgrund wiederbewirtschaf(te)ten, der mindestens zehn Jahre brachgelegen hat(te).“[67] Diese Bedeutung von occupare soll hier nochmals näher betrachtet werden. Da aber der sermo procuratorum nicht nur in diesem Falle für die Deutung der Germaniastelle hilfreich ist, wird er (soweit der Untersuchung dienlich) hier zusammen mit der petitio vorgelegt, wobei nicht die inhaltlichen Abmachungen und Zugeständnisse zu betrachten sind als vielmehr ihre sprachliche Fassung. Zum notwendigen Verständnis des Sachverhalts sei eine knappe Einführung vorausgeschickt.
In ihrer petitio bitten die Kolonen die Prokuratoren um Überlassung von Ödland auf Dominalboden zu den Konditionen der sog. lex Manciana, nach der im allgemeinen ein Drittel der Erträge als Pachtzahlung, die also in Naturalien geleistet wurde, abzuführen war.
Der sermo procuratorum stellt nicht nur klar, unter welchen Bedingungen es den Kolonen erlaubt ist, in den genannten Gutsbezirken Land zu übernehmen, sondern geht noch über ihre Bitte hinaus und stellt auch solches Land zur Verfügung, das seit zehn Jahren von den conductores aufgegeben war. Die conductores waren Pachtunternehmer, welche die kaiserliche Verwaltung bei den Pachtgeschäften unterstützte.[68] Die Prokuratoren stützen sich rechtlich ab durch eine lex Hadriana de rudibus agris et iis (sc. agris), qui per X annos continuos inculti sunt.[69] Dieses Gesetz sicherte den Kolonen „das Recht des Besitzes, der Nutznießung und der Vererbung zu, wenn sie noch nie gerodete oder seit mindestens zehn Jahren nicht mehr bestellte Flächen bearbeiteten“.[70]
Die petitio und der sermo procuratorum lauten wie folgt[71] :
..................rogamus, procurato- CIL VIII 25943, col. I 1-11
[res, per pr]ovidentiam vestram, quam
[nomine Ca]esaris praestatis, velitis nobis
[et utilitat]i illius consulere, dare no{s} -
b[is eos agros], qui sunt in paludibus et
in silvestribus, instituendos olivetis
et vineis lege Manciana, condicione
[s]altus Neroniani vicini nobis. Cu[m
ed]eremus hanc petitionem nostr[am,
fu]ndum suprascriptum N[eronian-
um i]ncrementum habit [atorum]
--- desunt complures versus ---
* * *
............Sermo procuratorum [im]- col. II 1 - 14
p(eratoris) <C>aes(aris) Hadriani Aug(usti): Quia Caesar n(oster) pro
infatigabili cura sua, per quam adsi-
due humanis utili<ta>tibus excubat, om-
nes partes agrorum, quae tam oleis au[t]
vineis quam frumentis aptae sunt, e[x]-
coli iubet, i<d>circo permissu{m} prov[id-
en]tiae eius potestas fit omnibus e[tia]-
m eas partes occupandi, quae in cent-
uri<i>s elocatis saltus Blandiani e[t] U-
densis <et> in illis partibus sunt, quae ex
saltu Lamiano et Domitiano iunctae
Tuzritano sunt, nec a conductoribus
exercentur
<i>isque qui occupaverint pos- CIL VIII 26416, col. II 7-13
sidendi ac fru<en>di{i} eredique su-
o relinquendi id ius datur,
quod e<s>t lege Ha<drian>a compre-
hensum de rudibus agris
et iis, qui per X an<n>os conti-
nuos inculti sunt;...
sed qu]i ea loca neglecta a co[ndu- CIL VIII 25943, col. III 3-6
ct]oribus occupaverit, qua[e da-
ri so]lent, tertias partes fructuu[m
da]bit...
nec alia pom(a) in divisione(m) umquam CIL VIII 26416, col. III 12-18
cadent qu<a>m quae venibunt a posses-
soribus. Quas partes aridas fruct[u]-
um quisque debebit dare, eas pr[o]-
ximo quinquennio ei dabit, in
cuius conductione agr(um) occupa-
verit, ...
Übersetzung :
„... bitten wir euch, Prokuratoren, bei eurer Fürsorge, die ihr im Namen des Kaisers walten laßt, ihr möchtet auf uns und auf seinen Vorteil Rücksicht nehmen und uns (5) die Felder, die in Sümpfen oder Waldgegenden liegen, auf Grund des Mancianischen Gesetzes, der Übereinkunft für den uns benachbarten Neronianischen Gutsbezirk, zum Anbau von Olivenbaumbeständen und Weinstöcken geben. Als wir diese unsere Bittschrift verfaßten, (hatte sich bereits gezeigt ?), (10) daß das obengenannte Neronianische Gut einen Zuwachs an Bewohnern (erlebte?)...“
* * *
„...Die Auskunft der Prokuratoren des Imperator Caesar Hadrianus Augustus : Weil unser Kaiser entsprechend seiner unermüdlichen Hingabe, mit der er ständig (15) das Wohl der Menschen überwacht, alle Teile der Felder zu bebauen anordnet, die sich ebensosehr für Olivenbäume oder Weinstöcke wie Getreide eignen, deshalb wird mit dem Segen seiner Fürsorge allen die Erlaubnis erteilt, sogar (20) diejenigen Teile in Besitz zu nehmen, die in den verpachteten Zenturien des Blandinianischen und Udensischen Gutsbezirkes und in jenen Teilen liegen, die vom Lamianischen und Domitianischen Gutsbezirk dem Tuzritanischen zugeschlagen wurden, und von den Pachtunternehmern nicht (25) bewirtschaftet werden. Und diejenigen, die sie in Besitz genommen haben, wird das Recht des Besitzes sowie der Nutznießung und der Vererbung gewährt, welches enthalten ist in dem Hadrianischen Gesetz (30) über unbeackerte Felder und solche, die während zehn aufeinanderfolgenden Jahren nicht bestellt wurden... (W)er diese von den Pachtunternehmern vernachlässigten Flächen in Besitz genommen hat, wird den Teil, der abgegeben zu werden (35) pflegt, (nämlich) ein Drittel der Erträge abgeben...Und es wird kein Obst jemals unter die Teilung fallen als solches, das von den Besitzern verkauft werden wird. Die Trockenertragsanteile, (40) die jeder wird abgeben müssen, wird er in dem nächsten Jahrfünft demjenigen abgeben, in dessen Pachtung er ein Feld in Besitz genommen hat...“ (D. FLACH).
Am sermo procuratorum interessiert uns zunächst die Bedeutung von occupare. Die Prokuratoren verwenden es insgesamt viermal und, worauf D. FLACH hingewiesen hat, [72] jedesmal für die Übernahme von Land durch Kolonen: potestas fit omnibus e[tia]m eas partes occupandi (19 f.), <i>isque qui occupaverint (26), qu]i ea loca neglecta a co[nduct]oribus occupaverit (33 f.), in cuius conductione agr(um) occupaverit (41 ff.). In seiner Übersetzung gibt FLACH occupare mit „in Besitz nehmen“ wieder, womit das Rechtsverhältnis ausgedrückt wird, denn mit der Okkupation werden die Kolonen als Pächter Besitzer dieser Parzellen, nicht Eigentümer. Eigentümer bleibt selbstverständlich der Kaiser. Hadrian will ja nicht Domanialland verschenken, sondern er wünscht, daß unbestelltes Land noch zusätzlich von den Kolonen zur Bewirtschaftung übernommen wird, um so seine Einkünfte zu vermehren. Das ist seine klar erkennbare Absicht, und deshalb verbindet er auch mit der Okkupation für Kolonen verlockende Rechte (possidendi ac fru<en>di{i} eredique suo relinquendi...ius, 26 ff.), aber nicht, um das Land nur in Besitz zu nehmen, sondern um es zur Bewirtschaftung zu übernehmen, indem es von den Kolonen auch bestellt wird. Nur so kann Hadrian mit vermehrten Einkünften rechnen. Die rein rechtliche Besitznahme des Bodens bedeutete ja noch nicht seine Bestellung; diejenigen Pachtunternehmer (conductores), die sich über zehn Jahre (das sind zwei Pachtperioden) im Besitz des Bodens nicht um die Bestellung oder Ausweitung der Flächen kümmerten, beweisen durch ihre Untätigkeit, daß Besitz nicht zwangsläufig die Bewirtschaftung mitumfassen muß. Von daher kann die Bedeutung von occupare in diesem Zusammenhang nur enggefaßt sein und präzise bedeuten „zur Bewirtschaftung übernehmen“ oder „in Anbau nehmen“, [73] wie es FLACH dann auch später an anderer Stelle, wie erwähnt, wiedergibt. Der Besitz wird den Kolonen extra und ausdrücklich durch das ius possidendi („Recht des Besitzes“, 26 ff.) zugesichert.
Für das Verständnis der Tacitusstelle ist zunächst einmal wesentlich, daß occupare für die Übernahme von Boden durch Kolonen ein gebräuchliches Wort gewesen ist. Diese Feststellung unterstreicht der amtliche Charakter des sermo procuratorum. Zweifellos haben die Prokuratoren in ihrem Entscheid den offiziellen Sprachgebrauch gewählt, der juristisch unanfechtbar das bodenrechtliche Verhältnis eindeutig erfaßt.
Auch die strittige possessio bei Tacitus kann in variierter Form durch den sermo procuratorum als „Pacht“ abgesichert werden. Ihr entsprechen die centuriae e l o c a t a e der kaiserlichen Güter (in centur<i>is elocatis, „in den verpachteten Gutsbezirken“, 20 ff.); die Kolonen werden expressis verbis als possessores bezeichnet (quae venibant a possessoribus, 38 f.) und für die zusätzlich in Anbau zu nehmenden Flächen wird ihnen das ius possidendi zugestanden (26 ff.). Alle Formulierungen der Prokuratoren meinen ein Pachtverhältnis.
Somit darf man nach dem dargelegten Befund als Ergebnis festhalten, daß taciteisches possessionis solum occupavere bedeutet „sie haben als Kolonen Pachtland zur Bewirtschaftung übernommen“.
Doch nicht nur diese Stelle gewinnt ihr Verständnis aus dem sermo procuratorum. Auch die Konjektur degrumatos (agros) findet hier eine Stütze. Diesen „mit der Groma vermessenen Äckern“ - wie Tacitus in poetischer Umschreibung sagt - entsprechen die Zenturien der kaiserlichen saltus (in ...centuri<i>is, 20 f.). Diese Zenturien sind ja ebenfalls mit der Groma vermessen, wie es Tacitus von den Äckern der Gallier berichtet, und so oder in einer ähnlichen Limitatio wird auch der saltus Sumelocennensis parzelliert gewesen sein.
Nicht wenige Forscher vermuteten in überliefertem decumates agros eine amtliche Bezeichnung oder einen Kanzleiausdruck. Sucht man einen solchen amtlichen Ausdruck, so ist er hier in der Kanzleisprache der Prokuratoren zu finden. Für taciteisches qui degrumatos agros exercent könnte auch ohne sachlichen Anstoß die (hier leicht abgeänderte) Formulierung der Prokuratoren stehen qui in centuriis elocatis agros exercent (so für: eas partes (sc. agrorum), quae in centuri<i>is elocatis...exercentur, 20 ff.). Damit wäre der Sachverhalt klar wiedergegeben und vor allem in der Überlieferung kaum störbar, da üblicher, sofort verständlicher Wortgebrauch. Aber der Kanzleistil ist eben nicht Tacitus’ Stil; stattdessen schreibt er unter Verwendung eines archaischen und poetischen Wortes qui degrumatos agros exercent und erreicht so eine klangvolle, fast feierliche Wirkung.[74]
Als Zwischenergebnis kann zunächst einmal festgehalten werden : Tacitus erwähnt im neueroberten rechtsrheinischen Gebiet Leute, die sich hier niedergelassen haben (consederint) und römischerseits parzellierte Äcker bestellen (qui degrumatos agros exercent); es handelt sich dabei um Gallier, die dieses Land in der Form des Kolonats zur Bewirtschaftung übernommen haben (possessionis solum occupavere).
Nun bezeichnet aber Tacitus die possessio der gallischen Kolonen als dubia, also als eine unsichere Pacht. Demnach hatten die Gallier keine Rechtssicherheiten erhalten, etwa in der Form, wie sie Hadrian den Kolonen durch seine Prokuratoren zuerkannte (26 - 32). Warum die römische Regierung so verfuhr, läßt sich dem folgenden Satz entnehmen : mox limite acto promotisque praesidiis sinus imperii et pars provinciae habentur. limitem agere ist, worauf R. MUCH z. St. hinweist, ein agrimensorischer Begriff und meint, bei der Limitatio einen Limes, einen Grenzweg ziehen,[75] hier wohl gewählt im Nachklang auf degrumatos agros, um einen gleitenden Übergang zu schaffen: [76] Ging es dort um Ackergrenzen, so hier um die Reichsgrenze, um den limes imperii[77]. Aus dem geschilderten Sachverhalt ergibt sich, daß die Ansiedlung der Kolonen zunächst in einer Militärzone auf nicht offiziell zum Imperium gehörigen Boden erfolgte. Erst mit der späteren Grenzziehung (mox limite acto) wird das neueroberte Gebiet nach römischer Rechtsauffassung - und wir folgen hierbei dem Senator Tacitus - als zum Imperium gehörig angesehen (sinus imperii et pars provinciae habentur), womit die alten Grenzen (veteres terminos, 29,2) ihre Rechtsgültigkeit verloren. V o r dieser neuen Grenzziehung siedelten die Kolonen demnach noch nicht auf Reichsboden, und unter juristischem Aspekt durfte es zweifelhaft erscheinen, ob der populus Romanus bzw. der Kaiser das Recht besaßen, hier als Grundherr aufzutreten und den Boden zu verpachten. In der Praxis jedoch verfuhr man nach dem Recht des Eroberers und vergab das Land, wohl weil man auf die Kolonen zwecks Versorgung des Heeres angewiesen war.[78] Ferner stand neben den rechtlichen Bedenken immer die Möglichkeit im Raum, daß die römische Regierung sich eines Tages anders besann und die Truppen wieder hinter den Rhein abzog, was politisch leichter fiel, wenn man nicht durch eine neue Reichsgrenze gebunden war. Aber mit der Ziehung der neuen Grenze (limite acto) hatte Rom sich endgültig festgesetzt, und alle Zweifel waren ausgeräumt - nec iam de limite imperii...dubitatum (Agr. 41,2).
Jetzt waren die Gallier Kolonen auf Reichsboden. Offensichtlich gleichzeitig wurden die Truppen nach vorn an die neue Grenze verlegt (promotisque praesidiis), und damit ein weiteres Hemmnis beseitigt, das einer Vergabe von festen Pachtverträgen entgegengestanden hatte, da vorher nicht auszuschließen war, daß bei Befestigungs- und Straßenbauten eine kürzlich vergebene possessio wieder eingezogen werden mußte.[79]
Es standen also rechtliche, politische und militärische Bedenken dagegen, daß die Römer Pachtverträge abschlossen, die sie unter Umständen nicht einhalten konnten. Aber nach Festsetzung der neuen Reichsgrenze und Verlegung der Truppen stand nichts mehr im Wege, die anfängliche dubia possessio in eine certa possessio umzuwandeln,[80] wie man aus Tacitus’ Worten heraushören darf, und zwar aus pars provinciae habentur. Damit ist nicht die zuständige lokale Provinz, hier also die Germania superior, gemeint, wie die Kommentatoren vermerken. Diese nur mit provincia anzudeuten, bliebe unverständlich, es sei denn, Tacitus hätte sie bereits bei der Schilderung der linksrheinischen Germanen namentlich eingeführt. Doch diese domitianische Errungenschaft zu erwähnen, dürfte Tacitus schwerlich im Sinne gehabt haben. Und warum sollte er, der „Schweigsame“, noch überflüssigerweise seinen Lesern mitteilen wollen, daß die Gallier jetzt „Teil der bzw. einer Provinz“ sind, da er doch gerade gesagt hat, daß sie nunmehr zum Imperium und somit selbstverständlich auch zu einer Provinz gehören? So ist hier provincia doch eher im ursprünglichen, republikanischen Wortsinn, der sich nicht selten in der Germania entsprechend ihrer moralisierenden Tendenz findet, als „Aufgabenbereich“ oder „Amtsbereich“ zu verstehen, wie sie die vom Volk gewählten Magistrate übernahmen, allerdings jetzt zu sehen als kaiserliche provincia, welcher der Kaiser, vertreten durch seine Prokuratoren, seine cura zuwendet, so wie Hadrian infatigabili cura (14) mittels seiner Prokuratoren um die utilitas seiner Kolonen bemüht ist. Mit dem Einbezug des okkupierten Gebietes in das Imperium (limite acto) sind also auch die possessiones der gallischen Kolonen Teil der kaiserlichen provincia, und ihre Besitzer dürfen sich der cura des Kaisers erfreuen, mit der sie vorher aus den genannten Gründen nicht rechnen konnten.
III.
Diese erste Niederlassung geht also ganz auf das Risiko der siedlungswilligen Gallier, und sie wagen dieses Risiko, denn nichts anderes meint das gleich vor dubiae possessionis gesetzte audax: diese Gallier sind „wagemutig“, „risikobereit“ oder auch schlicht „kühn“, und zwar im unternehmerischen Sinne,[81] doch gewiß nicht, wie man in Übersetzungen lesen kann, „verwegen“ oder gar „abenteuerlustig“. Diese Auffassung beruht auf einem Mißverständnis des zu audax gehörigen inopia. Der „Mangel“ wird hier im absoluten Sinne mißverstanden, so als wäre zu lesen inopia omnium rerum, und die Gallier wären demnach Habenichtse gewesen.[82]
Kolonen waren jedoch in der Regel keineswegs mittellos. Sie brachten ihr eigenes Inventar mit, die juristischen Quellen erwähnen von Kolonen abhängige Sklaven, und gelegentlich griff der Grundherr bei ausstehender Pacht zur Pfändung ihrer Habe. Wenn also nicht inopia omnium rerum die Gallier bewogen hat, über den Rhein zu gehen, was hat es dann mit inopia auf sich? Hält man sich dicht an den Gedankenverlauf der Stelle und beachtet dabei die knappe Ausdrucksweise unseres Autors, der gern jedes Wort als unnötig wegläßt, was der Leser oder Hörer sich denken kann, bildet sich folgende Vorstellung: V o r der Begründung inopia audax werden Ä c k e r erwähnt (agros exercent); g l e i c h d a n a c h geht es nochmal um Ackerland (solum occupavere). Was liegt da näher als zu dem in der Mitte stehenden inopia ein agri zu hören? inopia agri - Landmangel ist es, welcher die Gallier bewogen hat, risikobereit Boden mit nicht garantierter Nutzungsdauer in Anbau zu nehmen. Überbevölkerung und Landmangel sind immer ein besonderes Problem Galliens gewesen,[83] und vor diesem Hintergrund meint der Kontext nichts anderes, als daß landhungrige Gallier jenseits von Rhein und Donau trotz unsicherer Pachtbedingungen risikobereit parzelliertes Land von den Römern zur Bewirtschaftung übernommen haben.[84]
Etwas bleibt noch zu den wackeren gallischen Kolonen nachzutragen. levissimus quisque Gallorum charakterisiert Tacitus sie, und wegen dieses levissimus stehen sie - wenigstens im deutschen Sprachraum - in ganz schlechtem Ruf; das wächst sich manchmal aus bis zur Beschimpfung („das schlimmste gallische Gesindel“, „die größten gallischen Taugenichtse“) und in Verbindung mit mißverstandenem audax („dreist“, „verwegen“, „abenteuerlustig“) könnte man meinen, es sei hier von „outlaws“ (auch das wird geboten) in einem Goldgräbercamp die Rede. Etwas besser kommen sie weg mit Beurteilungen wie die „unzuverlässigsten“ oder „die leichtfertigsten Gallier“. Doch was auch immer geboten wird, keine dieser Deutungen paßt für Kolonen auf Domanialland, es sei denn, man unterstelle Tacitus die Unwahrscheinlichkeit, er impliziere damit einen Vorwurf gegen die kaiserliche Verwaltung, daß sie nicht imstande sei, geeignete Leute auf ihre Güter zu holen.
Wie also will Tacitus levissimus verstanden wissen, ohne daß sein Publikum im Zusammenhang „Kolonen auf Domanialland“ damit Verständnisschwierigkeiten bekam? Schaut man sich nach Deutungshilfe um, findet man sie in der Dichtung.[85] In der bekannten Fabel von der Land- und der Stadtmaus bei Horaz (sat. 2, 6, 77 ff.) überredet letztere ihre Gastgeberin, das ärmliche Landleben mit dem herrlichen Stadtleben einzutauschen. Die Reaktion kommt prompt:
...haec ubi dicta
agrestem pepulere, domo levis exsilit... (97 f.)
Sobald die Landmaus von besseren Lebensbedingungen hört, ist sie ohne Zögern bereit, alles aufzugeben und dorthin zu ziehen, wo ihr ein besseres Leben winkt.[86] Wenn sie doch wieder zurückkehrt, ist ihr Beweggrund nicht Heimweh, sondern das ruhige Landleben im Gegensatz zum gefahrvollen Stadtleben. Die Landmaus ist nicht so sehr „leichtfertig“, denn sie ist über die Risiken nicht vorher informiert worden, sondern sie ist levis im Sinne von „nicht bodenständig“ oder „ungebunden“, und so ist sie sofort bereit, dahin zu gehen, wo sie ihren Vorteil sieht.
Derselbe Dichter zeigt an sich selbst ein Beispiel ähnlicher levitas durch den Mund seines Sklaven :
Romae rus optas, absentem rusticus urbem
tollis ad astra levis ... (sat. 2, 7, 28 f.)
Auch Horaz ist nicht „leichtfertig“, sondern ihn hält es nicht lange an einem Ort; er ist - wenigstens nach Meinung seines Sklaven - unstet.[87] Unstetigkeit, mangelnde Bodenständigkeit, keine Seßhaftigkeit, das sind nun auch die stehenden Vorwürfe seitens der Grund- und Pachtherren gegen die Kolonen: Sobald diesen Leuten bessere Konditionen winken, gehen sie dorthin und geben die alte Pacht auf.[88] Häufiger Pachtwechsel war aber mit Einbußen für die Grundherren verbunden, die folglich wegen der Mobilität der Kolonen nicht gut auf diese zu sprechen waren.[89] Selbst der sonst so humanitär denkende jüngere Plinius glaubt, im Verkehr mit seinen Standesgenossen sich dieser Meinung anschließen zu müssen.[90] Andererseits weiß er sehr wohl, daß seine wirtschaftliche Unabhängigkeit auf der Arbeit seiner Kolonen beruht, und höchste gesellschaftliche und amtliche Pflichten stehen den utilitatibus rei familiaris (ep. 10, 8, 5) nach, wenn es darum geht die Kontrakte mit den Kolonen unter Dach und Fach zu bringen.[91] Da nun Plinius’ Adressaten, ein größtenteils senatorischer bzw. ritterständischer Personenkreis, dessen wirtschaftliche und gesellschaftliche Existenz auf der mit Kolonen betriebenen Gutswirtschaft beruhte, auch die Adressaten des Tacitus darstellten, wird dieses Publikum unschwer aus seinen Worten herausgehört haben, welcher sozialen Gruppe die Gallier angehören und wie levissimus gemeint ist.
Mit der levitas der gallischen Kolonen wird also ihre Mobilität gekennzeichnet; schwerlich darf man weitergehende negative Werturteile damit verbinden.[92] Tacitus will mit levissimus quisque Gallorum nur audrücken, daß hier eine ganz bestimmte Gruppe angesiedelt wurde, deren charakteristisches Kennzeichen für ihn und sein Publikum eben ihre Mobilität war.
Warum formuliert Tacitus nun aber levissimus quisque Gallorum und bringt somit noch eine Steigerung hinein? Man könnte sich mit der Erklärung begnügen, daß Tacitus, wie seine Leser wissen oder ein Blick in das Lexicon Taciteum von GERBER-GREEF zeigt, eine Vorliebe für quisque mit vorausgehendem Superlativ hat. Will man es aber nicht dabei bewenden lassen und sucht nach einer realen Situation hinter diesen Worten, läßt sich möglicherweise eine Erklärung für die so überspitzt scheinende Formulierung finden, wenn man den von Vespasian durchgeführten Reichszensus in Verbindung setzt mit der zeitgleichen römischen Expansion im Schwarzwald- und Neckarraum.
Bekanntlich hat Vespasian gleich im Anschluß an die Niederwerfung des Bataveraufstandes mit Nachdruck die römische Festsetzung in dem genannten Raum vorangetrieben.[93] Zur gleichen Zeit ließ Vespasian reichsweit eine Bestandsaufnahme öffentlichen Eigentums am Boden durchfühen.[94] Diese Revision sollte dazu dienen, den durch die Mißwirtschaft seiner Vorgänger und den Bürgerkrieg 68/69 ruinierten Staatsfinanzen wieder aufzuhelfen. Offensichtlich war in den Wirren des Bürgerkrieges oder schon in spätneronischer Zeit von den Altbesitzern aufgegebenes öffentliches Eigentum von Landsuchenden ohne Rechtsanspruch okkupiert worden, was die Behörden infolge der unsicheren politischen Verhältnisse hinnahmen.[95] Vespasian zog dieses Land wieder ein und vergab es an Gemeinden oder verkaufte es mit gutem Gewinn, ohne Rücksicht auf die jetzigen Siedler, die sog. privati, mit welcher Bezeichnung gesagt wird, daß sie keinen Rechtsanspruch hatten, auch wenn sie schon etliche Jahre den verlassenen Besitz bewirtschafteten. Bei der rigorosen Durchführung wurden viele Neuansiedler mit dem Entzug ihres unrechtmäßigen Besitzes getroffen.[96] Für Gallien wird diese Revision durch den bekannten Kataster von Arausio (Orange) bezeugt.[97] Demzufolge ließ Vespasian öffentliches Land, das von den genannten privati widerrechtlich okkupiert war, einziehen und es der Gemeinde von Arausio übergeben.[98] Das dürfte sich nicht auf die Gemarkung von Arausio beschränkt haben, und so gesehen ergab sich in Gallien eine nicht geringe Zahl von Depossedierten, die nun wieder Ackerland suchten. Ist es da nicht denkbar, daß etliche sich an die kaiserliche Behörde wandten, etwa in der Art, wie in der oben angeführten Bittschrift die Kolonen an Hadrians Prokuratoren : „rogamus, procurato[res, per pr]ovidentiam vestram, quam [nomine Ca]esaris praestatis, velitis nobis [et utilitat]i illius consulere, dare no{s}b[is eos agros], qui sunt in paludibus et in silvestribus“ (1-6)? Vespasian war bekanntlich um seine utilitas immer bemüht, bis hin zum Vorwurf der Habgier, und wenn er dabei auch noch für bittstellende Provinziale etwas tun konnte, gab er zugleich einen Beweis seiner kaiserlichen cura, worauf auch Hadrians Prokuratoren hinweisen: „pro infatigabili cura sua, per quam adsidue humanis utili<ta>tibus excubat (14-15). Da traf es sich nun günstig für Vespasians utilitas und cura, daß im neueroberten Gebiet Land zu vergeben war und eine Zahl von besitzlos gewordenen, landhungrigen Galliern bereitstand, auch über den Rhein ins Ungewisse zu ziehen - per invia, per incognita versavit se humana levitas -[99], um hier eine neue Existenz zu gründen. Das Gros der ersten Ansiedler könnte aus solchen depossedierten Galliern bestanden haben, die so z w e i m a l neuem Boden nachgegangen wären. So mag es gewesen sein,[100] und das macht Tacitus’ Formulierung levissimus quisque Gallorum - „gerade die am wenigsten Gebundenen unter den Galliern“ - verständlich, welche somit den Tatbestand faktisch korrekt und frei von Verzerrung wiedergäbe.
Dabei war der Rückgriff auf diese gallischen Siedler ein gut überlegter Schritt der römischen Regierung, denn sie hatten einmal ihren Siedlungswillen sichtbar unter Beweis gestellt, indem sie aufgegebenes Land unter den Pflug nahmen; sodann stand die gallische Landwirtschaft in einem guten Ruf,[101] und schließlich - und das ist wesentlich - waren sie bereit, loca inculta urbar zu machen. Mit Sicherheit kann man nämlich davon ausgehen, daß die römischen Behörden nicht kultivierten Boden boten, der nur auf seine Bestellung gewartet hätte. Es gab hier im Neckarraum gar keine agri culti, von denen die Eigentümer, etwa bei der Okkupation, vertrieben worden wären, denn von der archäologischen Forschung wird die Siedlungsleere dieses Raumes vor der römischen Okkupation betont.[102] Erst mit der römischen Besetzung begann die Besiedlung, und sie begann, mit den Worten der Bittschrift, in paludibus et in silvestribus. Sicherlich haben die römischen Behörden schon aus eigenem Interesse brauchbares Land (ager utilis) geboten, wie es in der Praxis üblich war,[103] aber dieses mußte zunächst einmal urbar gemacht werden. Mit anderen Worten, diese viel geschmähten Gallier waren nicht nur Kolonen, sondern Pioniere, durchaus vergleichbar den landsuchenden Bauern der deutschen Ostsiedlung, nur mit dem Unterschied, daß diese sogleich bei ihrer Ansiedlung sichere Konditionen von ihrem Landesherren erhielten.
Diese kühnen gallischen Kolonen (so Tacitus), die im Gefolge der römischen Armee in das heutige Südwestdeutschland kamen, gaben, um ein letztes Mal das Bittgesuch der nordafrikanischen Kolonen hier heranzuziehen, den Anschub für ein - wie die Archäologen uns zeigen - erstaunliches incrementum habit[atorum] (11). So berechnet C.S. SOMMER für das Ende des 2. Jahrhunderts, daß „in Baden-Würtemberg in der Blütezeit der römischen Okkupation zwischen 250000 und 600000 Menschen gelebt haben.“[104] Der Anfang dieser hochentwickelten Zivilisation in dieser „Ausbuchtung des Reiches“ wurde mit der Limitation des eroberten Bodens gemacht. Für Varro war die Termination die „Grundlage der privaten und staatlichen Ordnung“,[105] und so dachte sicherlich auch der Senator Tacitus. Die Vermessung des Landes schuf klare Eigentums- bzw. Besitzrechte und brachte damit die Voraussetzung für die Kultivierung des Bodens und die Erstellung von Gebäuden in geordnetem Rechtsrahmen. Das gewährleistete das Imperium Romanum: pacique inponere morem. Im Gegensatz dazu erstreckten sich auf der anderen Seite der Grenze im Barbarenland die inmetata iugera der Germanen,[106] die mit ihren jährlich wechselnden Besitzern, so wie es Tacitus schildert,[107] nicht die Voraussetzung für eine höhere Stufe der Kultivierung boten. Mit nur einem Wort, degrumatos sc. agros, „v e r m e s s e n e s Land“, gibt Tacitus zu verstehen, daß im neueroberten Raum „jenseits von Rhein und Donau“ die römische Zivilisation ihren Fuß auf den Boden gesetzt hatte, um sich in der Folgezeit in diesem Raum fruchtbar zu entwickeln, bis die von Tacitus hier vermißten Germanen auf der Bildfläche erschienen und gründlich zunichte machten, was die Tüchtigkeit der gallischen Kolonen und römischer Ordnungssinn geschaffen hatten.
Übersetzung
„Nicht möchte ich diejenigen zu den Stämmen Germaniens rechnen, auch wenn sie sich jenseits von Rhein und Donau niedergelassen haben, welche (von römischen Feldmessern) mit der Groma parzelliertes Land bestellen. Gerade die am wenigsten Gebundenen unter den Galliern haben aus (Land-)Mangel risikobereit Pachtboden zu ungewissen Nutzungsbedingungen (als Kolonen) zur Bewirtschaftung übernommen. Seitdem dann die Reichsgrenze festgelegt und die Wachen vorgeschoben wurden, werden sie nunmehr als eine Ausbuchtung des Reiches und Teil eines Amtsbereiches betrachtet.“
[1] Text nach E.KOESTERMANN, B.T., Leipzig 1962.
[2] A.A.LUND, Ist Decumates agri eine Textverderbnis ? (Tacitus, Germania, 29, 3),
Latomus 44, 1985, 337-350.
[3] K.DIETZ, DNP 3, 355, s.v. Decumates agri.
[4] Decumates agri, in : Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (=RGA),
2. (völlig neu) bearbeitete Aufl., hrsg.v. H.BECK u.a., Berlin/New York 1973 ff., Bd.5, 1983, 271-286.
[5] Kritischer Forschungsbericht zur ‘Germania’ des Tacitus, hier : Beiträge zu den decumates agri,
in : ANRW II 33.3, 2109 - 2124.
Daneben aus der neu erschienenen Literatur noch A.A.LUND, P. Cornelius Tacitus, Germania, Heidelberg 1988
sowie G.PERL, Tacitus, Germania, Berlin 1990, in : Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte
Mitteleuropas, hrsg. v. J.HERMANN, Bd. II.
[6] TH. MOMMSEN, Röm. Gesch. V, Berlin 1884, 138, A. 1.
[7] So wieder von G. PERL, 210 f. (s.o. Anm. 4) z. St. vertreten; hiergegen bereits E. NORDEN,
Alt- Germanien, Leipzig u. Berlin 1934, 139, A. 1.
[8] ST.BORZSAK, RE Suppl.11, 1968, 500 f., s.v. P. Cornelius Tacitus.
[9] Latomus 44, 337-350 (s.o. Anm. 2).
[10] a.a.O., 350.
[11] a.a.O., 344.
[12] Als Stämme, die ihren alten Wohnsitz aufgaben, werden (gelegentlich mit Angabe der Gründe) in der Germania
herausgehoben : die Tungrer (2, 5), die Helvetier und Bojer (28, 2), die Ubier (28,4), die Bataver (29, 1), die
Chamaver und Angrivarier (33, 1), die Kimbern (37, 1) die Markomannen und Bojer (42, 1). Kann Tacitus
darüber keine klare Auskunft geben, sagt er dies ausdrücklich (28, 3).
[13] Vgl. H. FOERSTER, Abriß der lateinischen Paläographie, Stuttgart 1963, 265, Tafel 5.
[14] ThlL V, 1, 387, 33-35.
[15] Gute Beschreibung des Gerätes und seines Gebrauchs bei D. FLACH, Römische Agrargeschichte, Handbuch
der Altertumswissenschaften III. 9, München 1990, 7 ff.
Eine ältere Einführung in die agrimensorische Technik von E. FABRICIUS, RE XIII 1 (1926) 672-701,
s. v. Limitatio.
[16] Eine Centurie maß im allgemeinen 2400 römische Fuß in Länge wie in Breite und umfaßte 200 iugera als
Untereinheit, insgesamt 50, 4 ha.
[17] H. CHANTRAIN, KP 3, 666, s.v. Limitation.
[18] A. SCHULTEN, RE VII 2 (1912) 1882, s.v. Groma. Zustimmend A. WALDE/J.B.HOFMANN, Lateinisches
etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1938, 3.(neubearb.) Aufl., Bd.1, 622, s.v. groma.
[19] F. BLUME/K.LACHMANN/A.RUDORFF, Die Schriften der römischen Feldmesser, Bd. 1 Texte und
Zeichnungen, Berlin 1848 (=L.); Bd.2 Erläuterungen und Indices, Berlin 1852, (=RUDORFF); Nachdruck
Hildesheim 1967. Obwohl fehlerhaft, unentbehrlich, da die Ausgabe von C.THULIN, Corpus agrimensorum
Romanorum, Leipzig 1913, Nachdruck Stuttgart 1973, (=Th.), unvollendet blieb.
[20] ThlL V, 1, 1234, 60-63 erklärt den Gebrauch von dirigere in re gromatica : „adiumento grumae...efficere, ut
rectis lineis aliquid decurrere videatur.“
[21] Text nach W.M. LINDSAY, Nonii Marcelli de compendiosa doctrina libri XX, Leipzig 1903, editio stereotypa
Hildesheim 1964, p. 87.
[22] F.T. HINRICHS, Die Geschichte der gromatischen Institutionen, Wiesbaden 1974, 82 : „Der Mittelpunkt des
Lagers, in dem die via praetoria auf die via principalis traf, nannte sich nach dem in dem Punkt bei der Anlage
des Lagers aufgestellten Visierinstrument `groma´.“
[23] E.H. WARMINGTON. Remains of Old Latin, vol. I, Ennius 439 (=Vahlen 453, 3. ed.).
[24] O. WEINREICH, Römische Satiren, übers. v. O. WEINREICH u.a., Zürich (Artemis), Nachdruck : Rowohlts
Klassiker der Literatur u. der Wissensch., 1962, 21.
[25] Remains... vol. III, Lucil. 96-97 (= MARX 99 - 100).
[26] R.K. SHERK, Roman Geographical Exploration and Military Maps, ANRW II 1, 534-562. Über die
Mitwirkung von Feldmessern beim Straßenbau, ebd. 556 ff.
[27] F.T. HINRICHS, Gesch. der gromat. Institutionen, 109. Photographische Abbildungen derartiger Flurkarten
mit Bergen, Flüssen, Straßen und Stadtbildern bei THULIN, corp. agrim.Rom., Fig. 135 a, 136 a.
[28] WARMINGTON, Remains ... vol. III, Lucil. 140-141.
[29] ThlL VI, 2, 2338, 1-3, s.v. grumo.
[30] s.o. Anm.18.
[31] ThlL VI, 2, 2335, 26-50 s.v. groma.
[32] Darunter bei Nipsius zweimal in der Schreibweise croma, also C statt G. ThlL, 1.c., 29.
[33] posita auspicaliter groma, Hygin. 135, 4 Th., wird im ThlL, l.c., 47 als Meßpunkt aufgefaßt. Ich verstehe darunter (nach Vorgang anderer) das Visierinstrument. Vgl. das Folgende.
[34] Das Nomen gromaticus ist in der uns geläufigen Bedeutung nur einmal belegt und auch nicht von dem
Visierinstrument abgeleitet, sondern nach Hygin. mun.castr. 12 von dem Meßpunkt. Vgl. F.T. HINRICHS,
Die Geschichte der gromat. Institutionen, 82, A.35.
[35] Beispiele: ferramento comprehendi non potest (170, 4 L.), extremitatem ad ferramentum rectis angulis obligare
et sic terminos ponere (198, 19 L.). Die Bezeichnung leitet sich wohl von dem eisernen Winkelkreuz her, das
um einen Zapfen drehbar auf dem Stativ steckte.
[36] RE Suppl. 11, 500.
[37] Antike Kunstprosa, Bd 1, 331 f., A.1, Darmstadt 1985, 5. (unveränd.) Aufl.
[38] Zur Zeit des Tacitus beginnt man die alte Literatur wieder zu schätzen; Tac. dial. 23, 2 ...isti, qui Lucilium pro
Horatio...legunt...; Quint. inst. 10. 93...Lucilius quosdam ita deditos sibi adhuc habet amatores, ut eum non
eiusdem modo operis auctoribus, sed omnibus poetis praeferre non dubitent.
[39] Front. (10, 20-11,1 Th.) Limitum prima origo, sicut Varro descripsit, a [d] disciplina[m] Etrusca[m]; quod
aruspices orbem terrarum in duas partes diviserunt.
[40] Varro l.l. 7, 8 In terris dictum templum locus augurii aut auspicii causa quibusdam conceptis verbis finitus.
Als Beispiel für derartige concepta verba zitiert Varro ebd. eine hochaltertümliche Formel, die bei der
Konstituierung des templum auf der arx in früher Zeit gesprochen wurde.
[41] O. BEHRENDS, Bodenhoheit und privates Bodeneigentum im Grenzwesen Roms, in : Die römische
Feldmeßkunst, Interdisziplinäre Beiträge zu ihrer Bedeutung für die Zivilisationsgeschichte Roms, hrsg.v.
O. BEHRENDS u. L. CAPOGROSSI, in : Abh. d. Akad. d. Wissenschaften in Göttingen, Phil. - Hist. Kl., III.
Folge, Nr. 193, 229: „Die Ersetzung des auguralen lituus durch die griechische groma verbesserte die
Visiertechnik, brachte aber keinen Kontinuitätsbruch, da die Errichtung dieses Visiergerätes weiterhin die
Einholung eines auguralen auspicium verlangte“.
[42] Möglicherweise in der 1. Pers. Sg., so wie der Augur in der bei Varro l.l. 7, 8 überlieferten Augurationsformel
bei der Grenzfestlegung von seiner Person ausgeht: templa ...sunto, quoad ego easte lingua nuncupavero;
...quam me sentio dixisse; ... quod me sentio dixisse...; ...rectissime sensi. Aus : E. NORDEN, Aus altrömischen
Priesterbüchern, Lund 1939, Reprint Edition, New York 1975, 97.
[43] E. NORDEN, Aus altrömischen Priesterbüchern, 11, verweist auf die „Neigung Vergils, an besonders feierlichen
Stellen der Aeneis Töne der Priestersprache leise anklingen zu lassen.“
[44] So auch Germ.40, 3 bubus feminis. MUCH, Germ. - Komm., Heidelberg 1967 (3. Aufl.), 454 : „römische
Sakralformel“ statt vaccis.
[45] E. NORDEN, Aus altröm. Priesterbüchern, 12, stellt für die verba sacrorum et sacerdotum fest : „Keine Literatur
hat wohl in gleichem Maße so ausgiebigen Gebrauch von solchen Worten gemacht wie die römische in
Geschichtsschreibung (bis Tacitus) und Rede ...“, im Gegensatz zur griechischen Literatur.
[46] Vgl. das folgende promotisque praesidiis.
[47] F.T. HINRICHS, Gesch. der gromat. Institut., 109: „Unter den Elementen der römischen Eigenständigkeit ist vor allem die Konsistenz des Instrumentariums zu nennen. Die dioptra war gegenüber der groma das bessere
Visiergerät, die römischen Architekten verwandten es längst...trotzdem haben sich die Mensoren auch dann noch
mit...groma und decempeda zufrieden gegeben, als sie riesige Gebiete aufzuteilen und ungleichmäßig begrenzte
Territorien mit großen Höhenunterschieden auszumessen hatten. Offenbar waren die Agrimensoren auch bei
ungemein erweiterten Aufgabenbereich nicht bereit, ihre...Berufstraditionen aufzugeben. Diese Beharrlichkeit
verdient alle Bewunderung, wenn man bedenkt, daß mit diesem Instrumentarium z.B. die ganze Provinz Nordafrika centuriiert und komplizierte Flächenmessungen ausgeführt worden sind.“
[48] Hor. c. 2, 15, 14 ff. decempedis metata...porticus; sat. 2, 2, 114 metato in agello.
[49] Germ. 29, 2 Protulit enim magnitudo populi Romani ultra Rhenum ultraque veteres terminos imperii
reverentiam.
[50] Hierauf weist hin D. PLANCK in : PH. FILTZINGER/ D. PLANK/ B. CÄMMER (Hrsg.), Die Römer in
Baden - Württemberg, Stuttgart u. Aalen 1986, 3. Aufl., 125 f. Doch geht auch PLANCK von einer Limitation in
diesem Raum aus.
[51] F.T. TANNEN, Gesch. der gromat. Institutionen, 23 ff.
[52] D. BAATZ, Der röm. Limes, Berlin 1975, 2. (erg.) Aufl., 57, spricht „von einem regelmäßigen Netz von Villen
und ihren genau vermessenen Äckern.“ C.S. SOMMER, Die römischen Zivilsiedlungen in Süddeutschland, in :
D.PLANCK, Archäologie in Württemberg, Stuttg. 1988, 300, sieht hier „ in der Aufsiedlung eine gezielte
einheitliche Maßnahme..., die bei der festgestellten Größenordnung sicher von langer Hand vorbereitet sein
muß (Vermessung und Aufteilung des Landes, Besitzzuweisung usw.).“
[53] F.T. HINRICHS, Die Gesch. der gromat. Institut., 48.
[54] Auch zu dieser Erörterung werden nur knapp die unterschiedlichen in der Forschung vertretenen Thesen
vorgestellt. Im übrigen wird verwiesen auf die oben Anm. 3 und 4 genannten kritischen Darlegungen der
Forschungslage.
[55] A.A.LUND, Gesamtinterpretation der Germania des Tacitus, in : ANRW II 33.3, 1923.
[56] Diese These wird besonders auf archäologischer und historischer Seite vertreten; die Philologen neigen eher zu den anderen vorgestellten Auffassungen.
[57] T. FRANK, „Dominium in solo provinciali“ and „ager publicus“, JRSt 17 (1927), 141-161; 161: „The new
theory of state ownership of the land in the provinces probably arose after Claudius. It seems likely that the
contributing causes were,...(4) the gradual increase of power on the part of the emperor... .“
[58] M. KASER, Röm. Rechtsgesch., Göttingen 1967, 2. (neubearb.) Aufl., 95. Der kaiserzeitliche Jurist Gaius
(2. Jahrh.) formuliert das so (inst.2, 7): in provinciali solo dominium populi Romani est vel Caesaris, nos autem
possessionem tantum et usum fructum habere videmur.
[59] CIL 13, 6365.
[60] DESSAU, ILS 8855.
[61] D. FLACH, Römische Agrargeschichte, München 1990, 83 ff.
O. SEECK, RE IV 1 (1900) 483 - 510, s.v. Colonatus.
[62] Ergänzend ist heranzuziehen die Bemerkung Frontins, daß in den Provinzen das Domanialland
per strigas et scamna parzelliert sei (vgl. o. S. 14).
[63] So auch wieder A.A.LUND, Latomus 44, 1985, 340, der die Stelle präzisiert „als erster in f e s t e n Besitz
nehmen“. Er beruft sich (Anm. 16 ebd.) auf W. REEB, Tacitus Germania, Leipz. und Bln. 1930, 153:
„Denn occupare heißt nirgends ‘in Anbau nehmen’, sondern überall ‘in Besitz nehmen’, so daß hier nur von der
e r s t m a l i g e n Besetzung eines herrenlosen oder eroberten Gebietes die Rede sein kann.“ Diese Auffassung
ist irrig; vgl. die folgenden Ausführungen.
[64] Nach M. KASER, Römisches Privatrecht, München 1989, 15. (verbesserte) Aufl., 94.
[65] D. FLACH, Röm. Agrargeschichte, 82 : „Nach welchen Grundsätzen und mit welchen Rechtsfolgen die
römischen Kaiser als Grundherren schalteten, ist nirgendwo genauer zu beobachten als in der prokonsularischen
Provinz Afrika.“
[66] CIL 8, 25943 und CIL 8, 26416. Es liegt also eine Doppelüberlieferung vor. Dieser Glücksumstand gestattet es,
die durch Beschädigung aufgetretenen Lücken gegenseitig zu ergänzen. Dazu und zur Erklärung des
Geschäftsganges vgl. D. FLACH, Inschriftenuntersuchungen zum römischen Kolonat in Nordafrika,
Chiron 8, 1978, 441 - 492.
[67] D. FLACH, Die Germania des Tacitus in ihrem literargeschichtlichen Zusammenhang, in : Beiträge zum
Verständnis der Germania, Teil I, hrsg. v. H. JANKUHN u. D.TIMPE, Abh. d. Akad. d. Wiss. in Gött., Phil.
Hist.Kl., 3. F., Nr. 175, 1989, 40. FLACH erörtert in diesem Zusammenhang die vielbehandelte Stelle
Tac.Germ. 26, 2 agri pro numero cultorum ab universis in vicem occupantur etc.
[68] D. FLACH, Agrargesch., 105: „ Der Kaiser sparte die Kosten für die Besoldung zusätzlicher Beamter, wenn er
die Verwaltung des Pachteinzugs in den Händen von Großpächtern beließ.“
[69] CIL 8, 26416, col. II 7-13.
[70] D. FLACH, Agrargesch., 109.
[71] Textgestaltung und Übersetzung von D. FLACH, Inschriftenuntersuchungen..., Chiron 8 (s.Anm. 65). Im Anfang
der petitio ist vor rogamus ein unvollständiges Wort fortgelassen. Die Auslassungen im sermo procuratorum sind
aus den rechts gegebenen Fundstellen ersichtlich. Eine eigene Zeilenzählung ist links gegeben, nach der hier
zitiert wird. Verbesserungen und Ergänzungen aus der Parallelüberlieferung (s. Anm. 65) sind (nach D. FLACH)
kursiv gesetzt.
[72] Vgl. o. Anm. 66.
[73] Für Tacitus ist das nicht die stilwidrige Verwendung eines modernen Fachbegriffs, denn diese Bedeutung von
occupare hat ihren Ursprung im Bodenrecht der Republik und bringt eine Assoziation an den ager publicus des
populus Romanus als ager occupatorius mit sich, ist also für Tacitus sozusagen „mit einem vollen Tropfen
republikanischen Öls gesalbt“. Ähnlich steht es Germ. 29, 1 um den publicanus (nec publicanus atterit).
Dieser hatte bekanntlich im Finanzwesen längst den kaiserlichen Prokuratoren Platz gemacht.
[74] exercere im Zusammenhang mit der Bodenbestellung ist gleichfalls poetisch belegt : Verg. georg. 1, 99
exercetque frequens tellurem; 1, 220 exercebis humum; 1, 356 exercere solum. A.A. LUND, Tacitus, Germania,
190 weist seinen Ursprung der „römischen Agrarsprache“ zu; ähnlich W. RICHTER, Vergil, Georgica, hrsg. u.
erklärt...,München 1957, 134: es handelt sich „um herkömmlichen Sprachgebrauch“. Diese Doppelzugehörigkeit
einerseits zum sermo rusticus oder cottidianus, andererseits zum sermo poeticus erklärt den Gebrauch im sermo
procuratorum wie bei Tacitus.
[75] Belegstellen bei RUDORFF, 500, s.v. limitem agere. Für Tacitus ist das kein rein agrimensorischer Fachbegriff
mehr; die Wortverbindung ist poetisch belegt, z.B. Verg. Aen. 10, 514 latum...per agmen...limitem agit ferro;
Ov.ars 3, 558 idem limes agendus erit.
[76] Der kurze Abschnitt über die Gallier ist kein knapper historischer Abriß dieses Raumes, wie man wohl in
einschlägigen Lexika lesen kann (so RE Suppl. VII, 1940, 6, s.v. Agri Decumates [W.SONTHEIMER] nach
E. NORDEN und E.HESSELMEYER; danach KP 1, 1416, s.v. Decumates agri), sondern er ist bestimmt vom
Vorgang der hier stattgehabten Limitatio, wie seine sprachliche Fassung zum Ausdruck bringt. Hierzu gehört
neben limite acto, occupavere, possessionis solum auch archaisierendes degrumatos agros.
[77] Vgl. Tac. Agr. 41, 2 de limite imperii ...dubitatum, der früheste Beleg für diese Bedeutung. Über limes als
Reichsgrenze RE XIII 1, 1926, 573 f., s.v. Limes [E. FABRICIUS].
[78] Ebenso C.S.SOMMER, Die römischen Zivilsiedlungen in Südwestdeutschland, 301 (o. Anm. 51).
Zu derartigen Militärzonen vor der Reichsgrenze zwecks Versorgung der Truppe vgl. Tac. ann. 13, 54 f.
[79] Ebenso C.S.SOMMER, ebd. 301.
[80] Zur Verbindung certa possessio vgl. Quint. decl. 13, 8 volucres ..., in quibus... domini ambigua possessio est.
13, 9 ut non sit earum volucrum certa possessio dum volant (postea: cum remearunt ... in postestate sunt); nach
ThlL X 2, 94, 30 - 32.
[81] Hor. sat. 1, 1, 30 nautae..., per omne audaces mare qui currunt.
[82] Caes. b.G. 1, 27, 1 Helvetii omnium rerum inopia adducti. Zur Erläuterung von audax verweisen die
Kommentatoren (so R. MUCH, A.A. LUND, G. PERL) auf Hor. ep. 2, 2, 51 f. paupertas impulit audax ut versus
facerem, mit dem Hinweis, es handele sich um einen „Gemeinplatz“ oder „Topos“ im Sinne von „Not macht
kühn“, doch bleibt es schwer vorstellbar, daß Tacitus in seinen Bericht einen Topos einfügt, weil er zur Sache
sonst nichts zu sagen hat. Für die Horazstelle hat übrigens ED. FRAENKEL, Horaz, Darmstadt 1963, 16 gezeigt,
daß der Dichter seine Aussage nicht als Allgemeinplatz versteht.
[83] Zu Landmangel in Gallien Caes. b.G. 4, 8, 2 neque ullos in Gallia vacare agros qui dari tantae praesertim
multitudini (sc. Germanorum) sine inuria possint; 6, 24, 1 (Galli)...propter hominum multitudinem agrique
inopiam trans Rhenum colonias mitterent; 1, 2, 5 (Helvetii) pro multitudine...hominum...angustos se fines habere
arbitrantur. Für die ältere Zeit Liv. 38, 16, 1 Galli, magna hominum vis, seu inopia agri seu praedae spe...Zur
Überbevölkerung in Gallien vgl. M. ROSTOVTZEFF, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich,
übers. v. L. WICKERT, Vlg. Quelle u. Meyer, o. J. (1929), Bd. 1, 181; zum Problem Landbesitz in Gallien in
den Händen weniger Eigentümer, ebd. 179.
[84] Die Auffassung von inopia im Sinne von „(Land)mangel“ wird noch gestärkt, wenn man statt unverständlichem
decumates agros das hier vertretene degrumatos agros („vermessenes Land“) liest. Von welchem „Mangel“
sollte sonst wohl die Rede sein?
[85] E. NORDEN, Antike Kunstprosa, Bd. I, 331, A. 4: „Bei augusteischen Dichtern läßt sich gelegentlich eine
aporia aus Tacitus lösen und umgekehrt.“
[86] domo levis exsilit kommentieren KIESSLING - HEINZE: „Statt jeder Antwort ist sie mit einem Sprung aus
ihrem Loch“.
[87] Zu levis zitieren KIESSLING - HEINZE z. St. Gell. 6, 11 levitatem plerumque nunc pro inconstantia ac
mutabilitate dici audio.
[88] „Denn im allgemeinen waren die Colonen ein arg fluctuierendes Völkchen“, O. SEECK, RE IV 1, 1900, 487, s.v.
Colonatus; ähnlich A.N. SHERWIN-WHITE, Plin.-Kom., Oxf., 1985, 3.(verb.) Aufl., 521: „In Pliny’s time the
coloni are impermanent; they continually flit...“; er gibt als Begründung :“Perhaps the real weakness lay in the
shortness of tenure under the colonus system, with renewals and changes every four or five years, which
discouraged the tenants from making major improvements.“ (ebd. 258 f.).
[89] D. FLACH, Röm. Agrargesch., 176. Man war sich in Gutsbesitzerkreisen darüber einig, die besten Kolonen seien
die auf den Gütern geborenen und aufgewachsenen. Die Kolonen selbst wissen davon, und infolgedessen betonen
in einer Bittschrift an den Kaiser Commodus die Kolonen ihre Bodenverbundenheit mit dem Hinweis, sie seien
rustici tui vernulae et alumni saltu<u>m tuorum (CIL 8, 10570, col. III, 28 - 29).
[90] ep. 7, 30, 3; 9, 15, 1; 36, 6; 37, 2.
[91] ep. 9, 37, 1; 10, 8, 4-6.
Über Senatoren und Ritter als Großgrundbesitzer und Pachtherren vgl. ROSTOVTZEFF I(o.Anm. 82), 162 f.
und besonders 167-170.
[92] Aufschlußreich für das Verständnis von levitas im Sinne von Mobilität (vgl. das Gelliuszitat o. Anm. 86) ist Sen.
ad Helv. cons. VI 1 - VII 10: Hinsichtlich seiner Lage als Verbannter stellt Seneca eine philosophisch-historische
Betrachtung über die commutatio loci (VI 1) an, die er in Zusammenhang sieht mit der humana levitas (VII 3).
Ausgehend von der Einwohnerschaft Roms, die von überallher aus unterschiedlichen Motiven zusammen
geströmt ist, stellt er fest: m o b i l i s enim et inquieta homini mens data est (VI 6). Den Grund dieser Mobilität
sieht er nach stoischer Lehrtradition im Ursprung der mens: ex illo caelesti spiritu descendit (VI 7), der
seinerseits im Kreislauf der Gestirne in ewiger Bewegung sei. Danach mustert er die Weltgeschichte auf
Auswanderungen und Neugründungen von Städten und Staaten auf fremden Boden und kommt zur Erkenntnis:
per invia, per incognita versavit se humana l e v i t a s (VII 3). Sodann stellt Seneca unterschiedliche Gründe für
den Auszug zusammen, darunter auch Überbevölkerung (VII 4, vgl. inopia (sc. agri) audax), und schließlich
bringt er auch aus der römischen Geschichte exempla für die levitas humana. Er nennt u.a. den Arkader Euander,
der, selbst landflüchtig, den flüchtigen Aeneas gastlich aufnahm; sogar der populus Romanus wird als Beispiel
angeführt: Hic deinde populus quot colonias in omnem provinciam misit! Ubicumque vicit Romanus, habitat. Ad
hanc c o m m u t a t i o n e m l o c o r u m libentes nomina dabant et relictis aris suis trans maria sequebatur
c o l o n o s senex (VII 7). Mit einem bedeutenden Abschnitt aus der Geschichte des populus Romanus, der
Gründung von Kolonien auch „in Übersee“ (trans maria), bringt Seneca seine Ausführungen über die
commutatio loci und die damit verbundene humana levitas in feierlicher Sprache zu einem Höhepunkt, und
Aeneas und die coloni Romani (hier im ursprünglichen Sinne als eigenständige Bauern zu verstehen) bieten
hinreichend Gewähr, daß levitas nicht in herabsetzender Weise oder gar als Schmähung gemeint ist.
[93] H.U. NUBER, RGA 5, 280 ff., Die flavische Okkupation (o. Anm.3); E. SCHALLMEYER, Der Odenwaldlimes,
Stuttgart 1984, 18 f.; D. PLANCK/W. BECK, Der Limes in Südwestdeutschland, Stuttg. 1987, 2. völlig
neubearb. Aufl., 17 ff.
[94] Vgl. F.T. HINRICHS, Die Gesch. der gromatischen Institutionen, Kap. VII: Die Grundsteuerrevisionen
Vespasians, 128 ff.
[95] Front. 53, 22-24 (L.) per longum enim tempus attigui possessores vacantia loca quasi invitante otiosi soli
opportunitate invaserunt, et per longum tempus inpune commalleaverunt.
[96] Wir kennen die Reaktion der Betroffenen für Italien: Fron. 54, 9 (L.) quassabatur universus Italiae possessor. In
den Provinzen dürfte es ähnlich gewesen sein. Vespasian nahm dann für Italien Abstand von der Rückforderung,
postquam legationum miseratione commotus est (Front. 54, 8 L.) , aber er verzichtete nicht auf den öffentlichen
Rechtsanspruch auf dieses Land. Das tat erst Domitian, et uno edicto totius Italiae metum liberavit
(Front. 54, 12 L.). Diesmal verschenkte der kaiserliche Eigentümer tatsächlich Land an seine Besitzer
(possidentibus donavit, Hygin. 97, 5 Th.).
[97] A. PIGANIOL, Les documents cadastraux de la colonie Romaine d’Orange, XVIe supplément à Gallia,
Paris 1962.
[98] In der Inschrift über dem Kataster ist zu lesen : Ve[spasianus]...[reddidit pub]lica...po[ssessa a priva]tis per
aliquod annos...Ich folge hier dem Verbesserungsvorschlag von D. FLACH, Röm. Agrargesch., 5, der
[reddidit pub]lica einsetzt statt [subsiciva pub]lica (HINRICHS, Die Gesch. der grom. Inst., 138) bzw.
[ad rest(ituenda) pub]lica (PIGANIOL, Les documents cadastraux, 81).
[99] Sen. ad Helv. cons. VII 3 (vgl. o. Anm. 91).
[100] Wenigstens erscheint im Rahmen der hier vertretenen Deutung der Germaniastelle diese Erklärung
wahrscheinlicher als daß man die Gallier für geflohene Reste des Aufstandes vom Jahre 21 n. Chr. (Tac. ann. 3,
40-47) ansieht, (so MUCH, Germ. Kom., 373, nach E. NORDEN, Alt-Germanien, 147) bzw. als
„Steuerflüchtlinge“ (G. PERL, Germ. Kom., 211) oder als sonst welche Malkontenten. Auch A.A LUNDs
Deutung einer „urgeschichtlichen Ansiedlung“ (Germ. Kom., 190) hat keinen tragfähigen Boden.
[101]F.D. MARTINO, Wirtschaftsgeschichte des alten Rom, übers. v. B. GALSTERER, München 1991,
2. (unveränd.) Aufl., 286: „Bei der Landwirtschaft nennt Plinius gleich nach Italien Spanien und Gallien.“
Möglicherweise kannte man in Gallien bereits „irgendeine Art von Kolonat.“ (ebd. 287).
[102]C.S. SOMMER, Die röm. Zivilsiedlungen..., 281 ff. (o. Anm. 51).
[103]RUDORFF, 361.
[104]C.S. SOMMER, Die römischen Zivilsiedlungen..., 303.
[105]E. NORDEN, Aus altrömischen Priesterbüchern, 41 (o. Anm. 41).
[106]So Horaz in einer „glücklichen“ Wortverbindung vom Land der Skythen und Geten (c. 3, 24, 12).
[107]Germ. 26, 2 f..
Non numeraverim inter Germaniae populos, quamquam trans Rhenum Danuviumque consederint, eos qui decumates agros exercent : levissimus quisque Gallorum et inopia audax dubiae possessionis solum occupavere; mox limite acto promotisque praesidiis sinus imperii et pars provinciae habentur.[1]