Räumliche Organisation, Ausstattung und Baumaterialien
von PETER LEMBURG (BAB Architekten), TORSTEN VOLKMANN
(der Text "Die Beelitzer Heilstätten — Bauanlage und Architekten" wurde erstmalig in dem Band "Die Beelitzer Heilstätten", herausgegeben vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege in der Potsdamer Verlags-Buchhandlung, 1997, ISBN 3-91019-627-6 im Kapitel „Entwicklungsgeschichte und Beschreibung“ abgedruckt. Dieser Band ist leider vergriffen. Der nachfolgende Text konnte dank der freundlichen Genehmigung der beiden Autoren an dieser Stelle abermals veröffentlicht werden)
Bei der neuen Bauaufgabe »Heilstätten« fanden natürlich die im allgemeinen Krankenhausbau gewonnenen Kenntnisse ihre Berücksichtigung. Das betrifft sowohl die bauliche Organisation der Gesamtanlage als auch die allgemeinen hygienischen Grundsätze bezüglich der Zuführung von Luft und Licht, der leichten Reinigungsfähigkeit oder der Verwendung erstklassiger, dauerhafter Materialien. Es galt, diese Prinzipien den speziellen Anforderungen an den Heilstättenbetrieb — der der Tatsache Rechnung tragen mußte, daß die Tuberkulose eine ausgesprochen ansteckende Infektionskrankheit ist — anzupassen. Den Ausgangspunkt hierfür bildete das Heilverfahren selbst, das eine unter strikter ärztlicher Kontrolle durchzuführende diätetisch-hygienisch-hydriatische Allgemeinbehandlung zur Steigerung der körperlichen Abwehrkräfte vorsah. Hieraus ergab sich ein Katalog von Anforderungen, der sich vom Standort selbst über die Organisation und infrastrukturelle Ausstattung einer Heilstättenanlage und ihre medizinische und technische Versorgung bis hin zu Fragen der Konstruktion und des Einsatzes geeigneter Materialien erstreckt.
Die Beelitzer Heilstätten lassen in all diesen Belangen auch heute noch eine Qualität erkennen, die sie ohne Einschränkung in den Rang einer mustergültigen Anlage erhebt. Die Landesversicherungsanstalt war mit ihrem ehrgeizigen Bauprogramm nicht nur angetreten, einen der größten Heilstättenkomplexe Deutschlands mit über 1.200 Betten zu errichten — üblich waren Anlagen mit bis zu 150 Betten —, sondern sie hatte ihr Vorhaben auch unter den Leitsatz gestellt, daß die Darbietung größter Leistungen und solidester Ausführungen die Voraussetzung für eine erfolgrei-che Behandlung bei letztendlich kostengünstigster Bewirtschaftung darstellte.
Bereits der Standort erfüllte in nahezu idealer Weise die Anforderungen nach ruhiger, windgeschützter Lage sowie rauch- und staubfreier Luft. Ungestörte Ruhe und ausgiebiger Aufenthalt der Patienten im Freien waren für das Heilverfahren von zentraler therapeutischer Bedeutung. Diesem Zweck galt die Errichtung einer Reihe von Anlagen, in deren Mittelpunkt, ergänzt durch die ausgedehnte Park-und Gartenlandschaft sowie die heute nicht mehr existierenden Freiluftbäder, die für Lungenheilstätten charakteristischen offenen Liegehallen stehen. Hierzu gehören zum einen die freistehenden, zum großen Teil über offene Wandelgänge den Pavillonbauten angebundenen Hallen, die auch bei ungünstiger Witterung einen Aufenthalt im Freien ermöglichten. Zum anderen sind auch die Pavillons selbst mit Hausliegehallen ausgestattet. Kennzeichen dieser lang-gestreckten Anlagen ist ihre durchgehende Ausrichtung und Öffnung nach Süden bei dreiseitiger Umschließung und Überdachung zum Schutz vor Wind und Regen. Darüber hinaus waren einige an ihrer Rückseite mit Baumreihen oder freiwachsenden Hecken hinterpflanzt, um sowohl die Architektur der geschlossenen Rückfront zu kaschieren als auch den Windschutz zu verbessern. Ebenso konsequent nach Süden ausgerichtet sind nahezu sämtliche Krankenzimmer, die so, mit hohen Fenstern ausgestattet, die bestmögliche Belichtung erhielten. Lediglich einige wenige Krankenräume in den Querflügeln sind nach Osten bzw. Westen orientiert, während sich auf der Nordseite ausschließlich Nebenräume befinden. Zwei- bzw. dreigeschossig angelegt — eine höhere Geschoßzahl war für Pfleglingsbauten wegen der zugroßen Treppenanstiege unzulässig —, vereinigten sie die Krankenbetten jeder Abteilung unter einem Dach und erleichterten somit die für das Heilverfahren als notwendig erachtete durchgehende medizinische Aufsicht durch das »Prinzip der möglichst kurzen Wege«. Gleichzeitig wurden die bei einer reinen Kompaktbauweise auftretenden Beeinträchtigungen der Krankenruhe dadurch weitgehend ausgeschlossen, daß Aufenthalts- und Wirtschaftsräume in Anbauten untergebracht oder wie die Küchen, Wäschereien oder die Kraft-zentrale »ausgelagert« wurden. Organisation und Einrichtung nicht nur der Pavillonbauten zeugen von der Berücksichtigung der besonderen hygienischen Anforderungen an den Heilstättenbau. Den Freiluftkuren an Bedeutung vergleichbar war dabei auch die Qualität der Luft innerhalb der von Patienten genutzten Räumlichkeiten. So wurde den bei Korridorbauten auftretenden Problemen der Flurbelüftung (und -belichtung) dadurch begegnet, daß den Hauptkorridoren nur einhüftig Räume zugeordnet wurden, Nebenräume und Krankenzimmer im Wechsel. Darüber hinaus wurde der Mittelbau mit einem Querlüftungsflur ausgestattet und erhielten die WC-Anlagen belüftbare Vorräume. Für alle Räumlichkeiten der Pavillonbauten wurden Werte für den stündlichen Luftaustausch festgelegt; in den Krankenräumen sollte ein zweifacher Luftwechsel stattfinden. Sowohl dieses Maß als auch die Auslegung der Räume selbst als vorwiegend Zwei-, maximal Vierbettzimmer mit einem Luftraum von 38 cbm pro Bett diente in besonderer Weise der Luftqualität und ging noch über die Empfehlung des Deutschen Centralkomitees hinaus. Die Lufterneuerung erfolgte auf zwei verschiedene Weisen: Zum einen über eine natürliche Lüftung der Räume durch das Öffnen der Fenster, die hierfür obere Klappflügel erhielten; ergänzend dazu wurden Lüftungsöffnungen in den Fensterbrüstungen vor-gesehen, so daß die hier hereinströmende Luft durch dar-unter angeordnete Heizkörper erwärmt wurde. Zum ande-ren wurden die von den Patienten genutzten Gebäude der ersten Bauphase mit besonderen Lüftungsanlagen ausgestattet. Dies betraf die Pavillons für Lungenkranke und die Zentralbadeanstalt im Ganzen sowie einzelne Bereiche in den Pavillons der Sanatorien (Speisesaal, Baderäume, Korridore, Treppenhäuser). Sie erhielten eine zentrale Luftzuführung, indem über externe Lüftungshäuschen frische Außenluft entnommen und diese durch unterirdische Kanäle den Gebäuden zugeführt, gefiltert, erwärmt, befeuchtet und mittels Ventilatoren verteilt wurde. In den seit 1905 geplanten Krankenpavillons war ausschließlich natürliche Be- und Entlüftung vorgesehen. Neben der medizinischen Bedeutung eines Aufenthalts an frischer Luft stellte die Hydrotherapie zur Anregung der Hautfunktionen einen weiteren wesentlichen Bestandteil des Heilverfahrens dar. Die Beelitzer Heilstätten wurden auch für diesen Bereich mit umfangreichen, modernsten Einrichtungen ausgestattet. So erhielten die Pavillons für Lungenkranke jeweils einen gesonderten Badeflügel mit zusätzlichen Räumen zur Kaltwasserbehandlung in direkter Nähe der Krankenräume. Im Sanatoriumsbereich entstand mit dem Badehaus darüber hinaus eine der größten medizinischen Badeanstalten Deutschlands. Die hydrotherapeutische Behandlung umfaßte Dusch- und Wannenbäder, Kaltwasser- und elektrische Heißluftbäder, medizinische sowie Sand-, Moor- und Schwefelbäder, ergänzt um Inhalations-, Massage- und Ruheräume. Im Badehaus untergebracht waren zudem eine medico-mechanische Abteilung und die großzügig ausgestattete Turnanstalt zur Rehabilitation. Durchgehend festzustellen bei Anlage und Ausstattung des Heilstättenkomplexes ist die Berücksichtigung strengster hygienischer Vorschriften. Das reichte von den sanitären Einrichtungen über die Wahl des Heizungssystems und die Oberflächenbeschaffenheit von Bauteilen und Gegenständen bis zu den umfänglichen Einrichtungen zur Desinfektion. Ähnlich den hydrotherapeutischen Abteilungen wiesen die rein hygienischen Zwecken dienenden Anlagen ausgesprochen hohen Standard auf. Die Wasch- und WC-Räume wurden großzügig dimensioniert und nach den neuesten Erkenntnissen komfortabel ausgestattet.
Mit Ausnahme weniger Wohngebäude waren sämtliche Bauten mit einer vom Fernheizwerk gespeisten Zentralheizung ausgerüstet. So war nicht nur die gleichmäßige Wärmeverteilung bzw. die gezielte Regulierbarkeit der Raumtemperatur gewährleistet, sondern die sonst leicht übliche Rußverschmutzung konnte vermieden werden. Die Heizkörper bestanden aus glatten Radiatoren ohne Zierrat. In den Fensternischen waren drehbare Plattenheizkörper installiert. Schwenkbar um eine seitliche senkrechte Achse, ermöglichten sie die Reinigung sowohl des Heizkörpers als auch der Nische selbst. Leichte Reinigungmöglichkeit und Vermeidung von Schmutz- und Staubansammlung stellte entsprechend den Forderungen des Deutschen Centralkomitees das grundlegende Kriterium für die Ausführung sämtlicher innenräumlicher Bauteiloberflächen dar. Dies betraf Wände, Decken und Fußböden, Fenster und Türen, Installationen und technische Einrichtungen und setzte sich fort bei der Materialwahl von Geräten und Gegenständen. Hier galt es, Materialien einzusetzen, die Schmutzfestsetzungen ausschlossen, glatte, undurchlässige Oberflächen auszubilden sowie Kanten, Ecken und Fugen zu vermeiden.
Als Fußbodenbelag kamen daher in den Korridoren, Bädern, WCs, Operations- und Desinfektionsräumen der Pavillon-bauten sowie in allen Dienstgebäuden weitgehend gesinterte Mettlacher Fliesen zur Anwendung. Daneben wählte man Eichenholzparkett mit Wandanschlüssen aus Steinholzkehlen und in zunehmendem Maße Linoleumbelag, der unter Ausbildung einer Rundkehle um 12 cm an der Wand her-aufgeführt wurde. Größte Sorgfalt widmete man auch den
Wandbekleidungen. Zierrat, Profile und Ecken wurden weitgehend vermieden, Winkel und Anschlüsse ausgerundet. Reichhaltig kamen Glasurklinker in jenen Räumen zum Einsatz, die Feuchtigkeits- und Wasserdampfbelastungen ausgesetzt waren, so in Baderäumen, Wasch- und Kochküchen, im Bade-, Kessel- und Maschinenhaus. Hier erhielten zum Teil auch die Decken eine Glasursteinverblendung. Die Krankenzimmer und Korridore bekamen einen An-strich mit abwaschbarer Ölfarbe, die Sanitärräume, Spülküchen etc. hingegen Wandbekleidungen aus Glasurplatten. Die Profile von Fenstern und Türen wurden flach und ohne tiefe Unterschneidungen ausgeführt, die Versprossung der Fenster auf ein Minimum reduziert und Tür- wie Fensterkonstruktionen mit einem Lackanstrich versehen. Von besonderer Bedeutung waren die Desinfektionsanlagen. Dies galt sowohl für den textilen Bereich als auch für das mit Tuberkelbazillen behaftete Sputum. Hierfür wurden in jedem Geschoß der Tbc-Pavillons besondere Räume zur Aufstellung von Sputumkochapparaten eingerichtet, in welche die Patienten ihre Speigläser und -flaschen, die sie ständig bei sich zu führen hatten, selbst entleerten. Die desinfizierte Restflüssigkeit wurde der heilstätteneigenen Kanalisation zugeführt. Im separaten Desinfektionshaus waren zudem ein Leichenraum, ein Sezierraum sowie die Müllverbrennungsanlage untergebracht. Zur Sicherstellung der notwendigen ärztlichen Versorgung und Betreuung erhielten die Beelitzer Heilstätten einen umfangreich ausgestatteten medizinisch-technischen Bereich. Er umfaßte Räume zur ärztlichen Untersuchung, Apotheken, Labor-räume, Röntgenapparate sowie zwei Operationsräume, welche sämtlich in den Krankenpavillons selbst untergebracht waren.
Als 1927 auch mit der Aufnahme Tuberkulöser im Spätstadium begonnen wurde, entschied man sich zum Bau eines Tbc-Krankenhauses, um die Durchführung der zunehmend an Bedeutung gewinnenden chirurgischen Behandlung direkt auf dem Anstaltsgelände zu ermöglichen. Mit dem Chirurgie-Pavillon entstand ein Bau, der streng nach medizinischen Gesichtspunkten organisiert und mit modernsten medizinisch-technischen Einrichtungen versehen war. Überwiegend mit Einzelzimmern ausgestattet, um eine Superinfektion zu unterbinden, wurden in diesem einhüftigen Korridorbau die Krankenräume in durchgehender Reihung nach Süden orientiert. Die den Räumen vorgelagerten Hausliegehallen erhielten Markisen, da die schwer Tuberkulösen keiner direkten Sonnenbestrahlung ausgesetzt werden durften. Aus diesem Grund wurden Liegehallen auch auf der Nordseite des Korridors angeordnet. Die chirurgische Abteilung umfaßte drei Operationsräume mit den erforderlichen Nebenräumen; hinzu kamen ein Röntgeninstitut, Einrichtungen zur Lichttherapie, eine Zentralapotheke so-wie zahlreiche Laborräume, ergänzt um ein ausgelagertes Labor für Tierversuche.
Mit der Beelitzer Anlage entstand ein in nahezu vollkommener Selbstversorgung betriebener Heilstättenkomplex, dessen konsequente Planung nach der Maßgabe medizinischer Erfordernisse eine in ihrer Größe beeindruckende Einrichtung von mustergültigem Charakter hervorbrachte. Über die bauliche Organisation und Konstruktion hinaus wurde die Grundlage hierfür insbesondere durch die Errichtung des zentralen Heiz-, Kraft- und Wasserwerks geschaffen, das den hohen Standard der medizinisch-technischen Ausstattung erst ermöglichte und dessen Auslegung die Voraussetzung für die Erweiterungsfähigkeit der Heilstätte bildete.