Die weissen Tauben

Die weißen Tauben

sind müde….- Die Friedenstaube, weiß auf blauem Hintergrund, war das Zeichen der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre. 2022 ist klar: Pazifismus ist was für Träumer, für alte Männer, und Frauen, die sich das Kind im Mann oder Frau bewahrt haben und gerne im Sandkasten sitzen und Friedensspielchen ersinnen. Jetzt aber ist nicht Sandkasten, sondern Krieg, völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Jetzt ist nicht Traum, sondern Realität. Jetzt ist nicht die Zeit der Träumer, sondern der Realisten.

Und die fordern „schwere Waffen“ für die Ukraine, Aufrüstung, mehr Geld für’s Militär, Kampfbereitschaft, Wehrhaftigkeit. Von Helden ist wieder vermehrt die Rede, von heldenhaftem Kampf. Menschen sterben für die Freiheit. Von Opfern ist wieder die Rede, die gebracht werden und zu bringen sind. „Pazifismus ist derzeit ein ferner Traum“, hat Robert Habeck gesagt, und Holger Gertz findet, das sei ein kluger Satz, „weil er dem Pazifismus seine Daseinsberechtigung nicht grundsätzlich abspricht. Nur eben jetzt aus gutem Grund.“

Holger Gertz (Was noch zu singen wäre. SZ Nr. 99 Samstag/Sonntag, 30. April/1. Mai 2022, Die Seite Drei) schreibt: „Mit dem Wissen von jetzt, also in einem vom Unterwerfungskrieg der Russen gezeichneten Epoche, erfährt gerade jeder, dass nur noch wenig ist wie früher. Eigentlich nichts mehr.“ Das ist schon rhetorisch scharfes Geschoss am 65. Tag eines schrecklichen Krieges, diese 2 Monate voller Grausamkeiten und Sinnlosigkeiten zu einer „Epoche“ auszubauen. Der mir sehr lebe Autor der SZ fragt weiter: „Kann man die alten Friedenslieder jetzt noch hören? Oder macht man sich dadurch zum Mittäter?“

Ich bin im Herzen (leider) Zelot und würde weiter fragen: Darf man heute noch, „mit dem Wissen von jetzt“, vom Frieden reden und über ihn nachdenken, oder macht man sich dann zum Kriegstreiber und Verfechter der Unfreiheit, zum Verteidiger des Diktatorischen und Tyrannischen, zum Komplizen des Verbrechers aus Moskau? Also: die Wirklichkeit hat gewonnen! Keine Friedenslieder mehr, keine Friedensträume, keine Friedenstauben – die Sprache der Waffen wird gewinnen.

Zwischenruf eines Christen:

Steht das Kreuz des Christus, das für manch einen Christen noch was bedeutet, eigentlich quer dazu? Darf man noch von Jesus reden, der bekanntlich vom Frieden sprach und die Friedenstifter seligpries? Oder war „der Herr“ und Gott doch ein gefährlicher Terrorist oder Träumer, was am Ende, radikal gedacht, auf’s selbe rauskommt, und wurde zu Recht von den Römern gekreuzigt, immerhin historisch erfolgreiche und gnadenlose Politik-Realisten?

Gut, dass wir Europa – das westliche – weitgehend entchristianisiert haben. Gut, dass wir aufgeklärt sind. Dass bei uns „im Westen“ die Vernunft gesiegt hat. Nur „der Osten“ und „die Russen“ sind noch orthodox, die Ukrainer natürlich auch.

Wir hier in Europa haben den Humanismus. Und wir haben, paradox genug, Marx verstanden und realisiert: indem wir den Menschen als einen „zu Verstand gekommenes“ Wesen begriffen, „der sich um sich selbst und seine wirkliche Sonne bewege“. Religion, so Marx, sei Illusion. Ich bin sicher, dass Marx recht hat an diesem Punkt und würde sagen: Angesichts der ökonomischen Abhängigkeiten und ökologischer Krisen- ja Katastrophenphänomene, die der Mensch selbst verschuldet, ist der „zu Verstand gekommene Mensch“ der Aufklärung eine gefährliche Illusion, die zu einer eigenen Religion mutiert ist. Nur zur Vollständigkeit die Erinnerung an das Marx’sche Resümee: „Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt.“

So haben wir ja "auf dem Stand der Theorie" aufgeklärt, vernünftig und wissenschaftsbasiert auch die Weltwirtschaft organisiert: dass es den Armen in Afrika und anderswo immer besser geht, dass ihre Lebensmöglichkeiten erhöht werden, dass zwar nicht alle genug zu essen und genug Rechte oder Würde haben, aber immerhin ein Handy und „Netz“. – Ich bin – im Sinne von Marx – schwer „enttäuscht“ – nicht über meinen christlichen Glauben, sondern über den Menschen als Lichtgestalt.

Habermas schreibt einen Tag vor Gertz (29.4.2022) ebenfalls in der SZ, Baerbock habe mit „einer bekenntnishaften Rhetorik“ ihrer Erschütterung nach dem Überfall auf die Ukraine „einen authentischen Ausdruck verliehen“ und „der spontanen Identifizierung mit dem ungestümen moralischen Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben.“

Kurt Kister (Gefühle am Anschlag, SZ Nr. 99, S. 15) weiter im Anschluß an Habermas: die grüne Außenministerin „nehme damit die Perspektive der um Freiheit, Recht und Leben kämpfenden ukrainischen Nation ein.“ Diese Perspektive scheint, durch viele Politiker*innen und Medien verstärkt, mehrheitlich inzwischen ein Großteil der bundesdeutschen Gesellschaft einzunehmen. „In dieser Perspektive gibt es aber nur Sieg oder Niederlage, Freunde oder Feinde.“

In meiner Biographie, die sich zum Teil mit dem Aufstieg der Grünen seit 1983 (Stichwort Friedensbewegung) deckt, fand ich es überzeugend, dieses antagonistische „Freund-Feind-Denken“ zu überwinden. Wohl auch deshalb bin ich nun meinerseits erschüttert, wenn ehemalige Generäle der Bundeswehr diese Perspektive für gefährlich, ja katastrophal halten, während Baerbock, Habeck und Hofreiter schwere Waffen je mehr und schneller desto besser ins Krisengebiet liefern wollen. Kurt Kister scheint es ähnlich zu gehen, wenn er mit Habermas eine Lanze für Olaf Scholz bricht, den großen Zauderer und Zögerer – er nennt ihn die Verkörperung „abwägender Vernunft“, die die „Risikoschwelle“ erkennt, „die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine“ für den Weltfrieden bedeutet.

So irritiert es mich als Kind der 1960er Jahre, dass die moralisch Empfindsamen und leicht zu Empörenden, die die 1980er Jahre, also die Endphase des Kalten Krieges als Kinder erlebt haben, nun in Sachen Krieg und Weltkriegsgefahr mit Einsatz von Atomwaffen einigermaßen unempfindlich und unsensibel reagieren und mit „Glaubenseifer“ Waffenlieferungen in Kriegsgebiete fordern und durchsetzen.

Als Christ, der ich gern bin und bleibe, könnte diese Politik eine Abkehr zur Folge haben von den Grünen, deren Mitglied ich auch (noch) bin. Wenn Robert Habeck von sich als ‚säkularem Christen“ spricht – ein anderer Ausdruck für „Atheisten“, dann könnte es sein, dass es bei der Frage von Krieg und Frieden doch um Glaubensfragen und Bekenntnissätze geht.

Bei der Debatte kann es also hilfreich sein, an ganz und gar unverdächtige Sätze zu erinnern, mit denen man schon nach Auskunft von Helmut Schmidt keine Politik machen kann, weil sie von Jesus stammen (Kategorie Träumer und Phantast, also gefährlich!) und in der Bibel stehen: „Selig sind, die Frieden stiften“, sagt der Herr Jesus in seiner berühmten „Bergpredigt“ bei Matthäus (5,9). Und als Jesus gefangen genommen wird, um von „der imperialen Macht“ des römischen Friedensreiches („Pax Romana“) in Richtung Kreuzigung geleitet zu werden und ein Teil der Jesus-Leute das verhindern wollen – durch Verteidigung ihres HERRn mit Waffengewalt – da sagt er: „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen (Matthäus 26,52).“ Jesus lehnt die Verteidigung seines Lebens ab.

Das schein ein heute undenkbarer Gedanke, mit dieser Idee „Politik“ zu machen. Man kann dabei nur verlieren. Das kann man an Jesus sehen, der sein Leben verloren hat am Kreuz. Es wird allerdings hartnäckig verbreitet, in Rußland und in den USA und an manchen kleinen Orten in Europa, dass der Gekreuzigte auferstanden sei und lebe. Es wäre die Verwandlung einer Niederlage in einen unglaublichen Sieg. – Wie gesagt: Alles alte märchenhafte und phantastische Überlieferungen (Aufgeklärte reden vom Mythologie, und wissen nicht, was sie sagen), mit denen man heut keine Politik machen kann.

Heute sind „schwere Waffen“ angesagt, zur Verteidigung des Lebens, der Freiheit, des Friedens, der Demokratie, der Selbstbestimmung, der…. und des… - Nichts ist mehr wie früher, also Mitte Februar 2022...

Ach ja: ich bin immer noch überzeugter Christ. Im Augenblick deutlich überzeugter von meinem Herrn und Heiland Jesus Christus als von „den Grünen“ oder „Liberalen“ (wobei die nie mein Thema waren, zu weit weg von allem, was mir wichtig ist), aber das ist – siehe oben - ein anderes Thema…