Joachim Berg: Am Ende der Welt
Krimi-Erzählung, 152 Seiten, ISBN: 978-3-9802133-4-9
10,00 Euro
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Eine Frau löst sich aus der namenlosen Menge Vorübergehender
und stürzt sich in den Kanal am Hafen. Als sie wieder auftaucht und ins Leben
zurückkehrt, ist ihre Welt neu geordnet. Mann und Kind existieren nicht mehr
für sie.
So beginnt die Erzählung von Joachim Berg. Am Ende der Welt
ist eine neue Welt und am Ende ist diese wieder zu Ende und neu. Dazwischen
wird von Menschen erzählt, die sich begegnen, weil sie sich öffnen. Gemeinsam
gehen sie dann ein Stück durch diese neue Welt und betrachten sie. Ein
“Roadmovie” im Spazierengehen entwickelt sich und steuert schließlich einem
dramatischen Finale zu, aus dem dann wieder neues entstehen kann..
Texauszüge
Im Rücken: die Kirche. Altes, düsteres Backsteingemäuer. Massiv. An der Kopfseite langgezogenes Giebelfenster mit verdunkeltem Glas. Hochdarüber eine Engelsfigur. Goldener Schimmer auf der Stirn. Beugt sich leicht hinab. Schaut zu.
Im Blick: hellrote Backsteinfassaden. Muster mit breiten, gelben Strichen. Unregelmäßig. Lagerhaus auf Lagerhaus. Türkise Dachspitzen. Viele kleine Fenster, das Glas dunkel wie in der Kirche. Manchmal zerbrochen. Manchmal erneuert. Kathedralen voller Waren. Zu Museen geworden.
Dazwischen: dunkelbraun plätschernder Kanal. Es riecht nach verbranntem Diesel. Auf der Straße vor der Kirche wird der Bürgersteig gefegt. Am Kai (gleichfalls Backstein, wieder anderer Rot-Ton, leuchtend rot wie untergehende Sonne) sind kleine Löcher eingefasst, mit Gitterstäben, sehen aus wie Schießscharten. An der Kirchenseite, oberhalb der Straße, entlang des Kanals, ein Fuß- und Radweg. Eine Mauer. Eine hüfthohe Mauer, Abgrenzung zum Kanal, selbstverständlich Backstein (im Rot der Kaimauer), darauf Betonklötze, grünstichig, als wachse Moos.
In regelmäßigem Abstand in die Mauer eingefasst: ein Steg. Zwei Leitersprossen mit Geländer aus Metall führen auf die Mauer. Dann geht es tief hinab in den Kanal.
Der Bürgersteig ist zu Ende gefegt. Jetzt werden Mülltonnen gefüllt. Es ist Sonntagnachmittag. Es weht laue Spätsommerluft. Aus den Kanälen zwischen den Lagerhäusern ist der verzerrte Lautsprecherton von Fahrern der Ausflugsbarkassen zu hören. Touristen werden herumgeschippert. Auf dem Kaiweg hallen die Absätze von Frauenschuhen. Inlineskater und Radfahrer huschen vorbei. Kinder zieht es zu der Mauer, bis besorgte Mütter sie zurückziehen. Mülltonnen sind gefüllt, ein letztes Zuklappen des Plastikdeckels. Sonne kommt heraus.
Die Frau löst sich von dem Mann und dem kleinen Jungen. Sie sieht elegant aus. Schuhe hochhackig, lila gelackt. Schwarzer, kurzer Rock. Beine braun gebrannt und lang, Schenkel kräftig, ohne dick zu wirken. Haare sind schwarz und hängen offen über den Schultern, Schminke ist dezent.
Sie steigt auf die zwei Sprossen der Leiter. Der Mann, er trägt lässig sein weißes Hemd, Jacket über die Schultern geworfen, bleibt irritiert zurück.
Die Frau steht auf der Mauer. Auf der anderen Seite der Leiter, da wo es schier endlos tief hinabgeht, wie in einen Brunnen. Es ist sehr schwer, die Tiefe zu schätzen. Auf der obersten Sprosse, zwischen dem Geländer, zieht sich quer eine Spinnwebe. Sie muß schon lange Zeit nicht mehr benutzt worden sein. Die Frau nimmt ihre Sonnenbrille ab und wirft sie in den Kanal. Jetzt ist ein Blitzen in den Augen zu sehen. Als träfe das Licht der Sonne einen Spiegel. Und ließe Glut entstehen. Die Frau zieht ihre Jacke aus. Jacke aus feinem, dunkelbraunen Stoff mit pelzbesetztem Kragen. Sie lässt die Jacke in den Kanal hinuntersegeln und lächelt. Ihre ärmellose Bluse ist weiß und kurz. Hautstrich um den Bauchnabel bleibt frei, lässt einen dicken Leberfleck sichtbar werden, unter dem straffen, weißen Stoff zeichnen sich Brustwarzen ab.
Als sie das Geländer loslässt und frei auf der Sprosse steht, gleicht sie einer flammenden Schönheit, vollendet und unerreichbar, Abgrund und Gipfel menschlicher Seele verzaubernd.
Jetzt hält der lässige Mann den kleinen Jungen an den Händen fest. Kurze Hosen trägt der Junge und blaues kurzärmeliges Hemd, sein Blick ist erschrocken.
Die Frau lässt sich fallen. Der Rock bläht auf im Flug, sie streckt Beine und Arme, sie reckt sie scheinbar, wie nach langem, tiefem Schlaf beim Aufwachen die Glieder gestreckt werden, um sie zu lockern, sie pulsieren zu lassen. Dann gibt es einen lauten Schlag. Wasser spritzt. Ein Schuh hüpft in die Höhe. Aus brauner Welle des in Bewegung gesetzten trägen Wassers taucht der Kopf der Frau auf, Arme rudern ohne Panik.
Der Unsichtbare auf der Bank des Kaiweges steht auf und wird zum Menschen. Ein Koch radelt vorbei, mit hoher Mütze und stolzem Blick, eine Würstchenzange in den Händen. Der Mann mit dem zerrenden Jungen an der Hand drückt auf die Tasten seines Handys. Er geht nicht vor zur Mauer. Das macht der bislang Unsichtbare. Es ist ein Mann, sehr groß, etwas massig wirkend, nicht dick, nicht muskulös. Hat kleine dunkle, aufmerksam streunende Augen. Trägt graues T-Shirt, darüber dunkelbraunes Jacket. Als er auf der Leiter nach unten blickt, sieht er die Frau schwimmen, sie krault mühsam, hat Schuhe verloren, braunes Wasser spritzt. Sie treibt auf die Kaimauer am Fußweg zu.
Der Mann, wir nennen ihn Hannes, klettert die Leiter hinunter, als er den Schwindel im Kopf überwunden hat. Empfängt die Frau, wir nennen sie Rita, am Fuße der Leiter. Reicht ihr die Hand, spürt die Nässe, packt fest, zieht sie hoch, lässt sie Halt finden.
(...)
Der Mann heißt Steinbeck und ist Rentner. Der Mann hat einen maroden Rücken, weil er hat jahrzehntelang im Hafen gearbeitet. Der Mann hat einen Hund, der heißt Strolch, mit dem ist er zu wenig streng. Der Mann hat keine Frau mehr, weil die starb an Krebs. Der Mann hat Kinder, die sind weit weg. Der Mann streunt täglich mit seinem Hund, dem Strolch, durch die Stadt, gleich welches Wetter ist. Der Mann sucht einmal täglich jene Stelle am Hafenbecken auf, wo er heute Hannes und Rita trifft. Weil hier war er glücklich mit seiner Frau. Weil hier hat er seiner Frau Gedichte vorgelesen. Von Georg Trakl hauptsächlich, weil die so schön melancholisch sind. Obwohl der Mann, er heißt Steinbeck, Werftarbeiter war, und obwohl Steinbeck die BILD-Zeitung gelesen hat und noch immer liest, hat er auch Gedichte gelesen und liest sie noch immer, obwohl ja allgemein angenommen wird, dass das nicht zusammenpasst.
Aber Steinbeck hat auch eine Imbissverkäuferin an der U-Bahn-Station am Stadtpark gekannt, die sogar selbst Gedichte schrieb und die waren gar nicht schlecht, Steinbeck ist Kenner von Lyrik und kann beurteilen. Wenn abends die Kundschaft am Imbiss versiegte, las sie ihm Gedichte vor und Steinbeck sagte der Frau, sie hieß Schneider, was er davon hielt. Steinbeck und Schneider und solange sie noch lebte auch Steinbecks Frau, die Helene, welche aus Mecklenburg stammte, sie dachten durchaus über Gedichte hinaus und debattierten lebhaft die politische Entwicklung nach dem Krieg. Bei klaren Schnäpsen an der Imbissbude, und obwohl Frau Schneider unverheiratet war und hübsche blonde Locken über rotwangigem Gesicht besaß, kam bei Helene keinerlei Eifersucht auf. Wir wissen nicht, ob es daran lag, dass Helenes Familie sehr kinderreich war und nach dem Krieg und nach der Flucht aus Mecklenburg in sehr ärmlichen Verhältnissen am Rande Hamburgs lebte oder einfach ihre Liebe und damit ihr Vertrauen in Horst, ihren Mann, grenzenlos war, jedenfalls debattierten die drei über Literatur und Politik, obwohl sie auch BILD-Zeitung lasen, zum HSV gingen und durchaus nach hartem Arbeitstag Entspannung mittels Fernsehprogramm suchten. Die Ergebnisse ihrer Gedanken waren als radikal zu bezeichnen. Radikal in ihrer Ablehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Und so war Steinbeck in seiner Jugend bei den Kommunisten aktiv, bis die KPD verboten wurde. Von der DKP in späteren Jahren hielten sie sich allerdings fern, allzu deutlich war das Denkverbot in jener Partei. So etwas wie politische Heimat fanden sie nicht, aber womöglich hätte auch jede Form von Heimat ihre Art zu denken allzusehr eingeschränkt.
Hannes und Rita erfahren all das an jenem spätsommerlichen Freitagnachmittag, der allmählich in den Abend übergeht. Und es ist, als würden sie jenen Steinbeck schon immer kennen, als wäre er ein alter Vertrauter, den sie nach Jahren wiedergetroffen haben. Als sie angesichts der aufkommenden Dunkelheit aufbrechen wollen, machen sie eine Entdeckung. Auch Steinbeck hat sie lange nicht mehr gesehen: Glühwürmchen. Wie aus dem Nichts aufgetaucht, tänzeln sie ruhig vor erstaunten Augen. Sie betrachten sie schweigend, während Steinbeck, nicht ohne Rührung, seinen Hund hält und ihm den Nacken krault; während Hannes und Rita ihre Finger ineinanderspielen lassen. Dann sind die Glühwürmchen verschwunden. Oder sind sie noch da und haben nur ihr Licht abgedreht?
“Kennt ihr Pasolinis Text über das Verschwinden der Glühwürmchen, geschrieben Anfang der 70er Jahre?” Hannes stellt die Frage, Rita und Steinbeck schütteln den Kopf.
“Er beschreibt das Verschwinden der Glühwürmchen aufgrund der Luftverschmutzung als ein Symbol für die radikale politische Veränderung Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Eine Veränderung, die sich schleichend vollzieht, aber grundlegender ist, als alles was sich in Jahrhunderten vorher abgespielt hat. Er nennt es den Faschismus der Warengesellschaft. Nicht mehr die alten Ideologien bekämpfen sich, sondern etwas vollständig Neues tritt an ihre Stelle, etwas Neues, von unvorstellbarer Macht, dem alles untergeordnet wird. Es ist die Macht des Konsums. Spätestens mit dem Zusammenbruch der pseudo-sozialistischen Systeme Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, hat sich Pasolinis Prophezeihung erfüllt. Nichts mehr hat einen Wert, nur Konsum, Markt, Ware. Dem wird alles untergeordnet. Absolut alles.”
Hannes, der mit den letzten Worten seine Stimme leicht erhoben hat, verstummt abrupt. Nach einer Pause des Schweigens fügt er ruhig hinzu: “Ganz verschwunden sind die Glühwürmchen also nicht. Vielleicht wiederauferstanden. Was sagt uns das jetzt?”
“Menschen sind noch nicht verschwunden”, murmelt Steinbeck versonnen und nimmt seine Mütze ab. Strolch, der Hund, hat im Gebüsch etwas erschnüffelt und sein Herrchen läßt ihn laufen. “Die alten Klassengegensätze gelten nicht mehr. Es gibt neue und die sind totaler, weil sie in uns selbst stecken”, fügt er hinzu.
“Aber reich und arm gibt es noch genauso”, mischt sich Rita ein. “Besitz und Nicht-Besitz. Von Bodenschätzen, Rohstoffen, Arbeitsverhältnissen, Maschinen, Grundstücken und so weiter. Das wisst ihr doch.”
“Ja, sicher”, Steinbeck läßt seine Mütze um die Finger drehen, “nur es genügt nicht die Enteignung. Die äußere, meine ich. Relativ gesehen sind auch wir die Besitzenden, gleichzeitig auch Besitzlose. Wir müssen uns selbst enteignen, gleichzeitig aber selbständig lebensfähig bleiben. Ökonomisch und psychisch. Ersteres habe ich nicht geschafft. Versteht ihr?”
Hannes beobachtet Strolch und lässt die Worte des alten Mannes in sich wirken. Rita nimmt im Spiel Steinbecks Mütze. Wäre es nicht so dunkel, dann sähe er jetzt ihr breites Lächeln. “Sich selbst enteignen.” Rita schleudert mit einem Auflachen die Mütze Richtung Hafenbecken. Strolch, der Hund, versteht das Spiel und bald kommt er mit der Mütze zurück, der Schwanz wedelt freudig. Alle lachen.
“Sollten wir also eine Firma aufmachen?” fragt Hannes, “wegen der ökonomischen Selbstbestimmung?”
Und Rita fügt hinzu: “Genau. Eine Firma, die den allzu Reichen das überflüssige Geld abnimmt und es den allzu Armen zukommen läßt. Und einen Anteil für sich behält, um ökonomisch lebensfähig zu sein.”
“Keine schlechte Idee”, Steinbeck setzt die Mütze wieder auf.
“Die Glühwürmchen existieren wieder oder weiter, weil ihr Wert für das Geldverdienen keine Relevanz hatte. Wenn Geld verdient wird, ist ihre Existenz unbekannt. Nur wenn sich mit ihrer Existenz Geld verdienen ließe - und das ist durchaus möglich - würden sie zu einem Wert, also einer Ware. So ist es auch mit den Menschen. Überflüssig, solange keine Ware. Und das gilt für den Aufsichsratsvorsitzenden oder den Bank-Manager genauso wie für den Bettler auf der Straße oder den Tagelöhner irgendwo in Asien.”
“Das hat etwas zynisches.” Rita muss nachdenken.
“Nein”, Steinbeck erhebt sich mühsam, “wenn man genau hinhört, dann nicht.”
Sie machen sich gemeinsam auf den Weg Richtung Stadt. Strolch muss an die Leine.
“Was ist eigentlich aus der Imbissverkäuferin geworden, der Frau Schneider?” fragt Rita im Gehen.
“Sie hat aufgehört zu schreiben. Danach ist der Kontakt abgerissen.” Steinbecks Worte verhallen mit traurigem Klang im aufbrausenden Stadtlärm auf der Baumwallbrücke.